Persönlichkeitsmerkmale als störende Belastung (Seite 14/16)

Bin ich zwanghaft?

Zwanghafte Persönlichkeitsstörung: Perfektionismus, starre Regeln und Kontrolle

Menschen mit einer zwanghaften (auch: anankastischen) Persönlichkeitsstörung neigen zu Perfektionismus, beharren starr auf bestimmten Regeln oder Verhaltensabläufen und tendieren dazu, Dinge zu kontrollieren. Sie sind oft nicht bereit, sich an Gewohnheiten oder Eigenarten anderer Menschen anzupassen und bestehen darauf, dass diese sich ihren eigenen Gewohnheiten unterordnen. Sie haben oft Gefühle von Zweifel und sind in vielen Dingen besonders vorsichtig. Wegen ihrer hohen Ansprüche haben sie Schwierigkeiten, Aufgaben und Pläne in die Tat umzusetzen, und aus Angst vor Fehlern fällt es ihnen oft schwer, Entscheidungen zu treffen. Darüber hinaus haben sie Schwierigkeiten, Gefühle auszudrücken, so dass sie auf andere oft kühl und rational wirken.

Patrick, 34 Jahre alt, ist der jüngere von zwei Söhnen. Seine Eltern arbeiten erfolgreich in akademischen Berufen, sein Vater ist Ingenieur, seine Mutter Hochschullehrerin. Seine Eltern waren immer ziemlich streng, und ihr Leben war extrem gut geplant: So gab es Tages- und Wochenpläne mit allen anstehenden Aufgaben, die in der Wohnung aufgehängt wurden. Urlaube wurden ein oder zwei Jahre im Voraus organisiert.

Patrick, der sich seinem selbstbewussteren Bruder unterlegen fühlte, versuchte immer, ein „braver Junge“ zu sein. Er erledigte alle Aufgaben pedantisch und gewissenhaft und war dabei besonders sorgfältig und ordentlich. Auf diese Weise schaffte er es, seine perfektionistischen Eltern nicht gegen sich aufzubringen. Wenn er wütend war, unterdrückte er seinen Ärger, und bei Entscheidungen fragte er jedes Mal seine Eltern um Rat, um auf keinen Fall etwas falsch zu machen.

Aktuell arbeitet Patrick in einem Verwaltungsjob, wo er alle Aufgaben sehr genau und gewissenhaft erledigt und einen genau geplanten Tagesablauf hat. Doch seit einigen Monaten leidet er unter Schlafstörungen, ist sehr angespannt und hat extreme Selbstzweifel und Schuldgefühle. Es zeigt sich, dass dies mit dem Wechsel in eine neue Position zu tun hat, bei der er mehr mit anderen zusammenarbeiten muss. Patrick berichtet, dass er auf der einen Seite große Angst hat, Fehler zu machen und deshalb Aufgaben nicht zu Ende bringen und keine Entscheidungen mehr treffen kann. Auf der anderen Seite kritisiert er die Arbeitsweise seiner Kollegen und ist er überzeugt, dass alles so, wie er es bisher gemacht hat, besser war. Als er das den neuen Kollegen gesagt habe, hätten sie mit Unverständnis reagiert.

Übergänge zur Normalität – zwanghafter Persönlichkeitsstil (nach Kuhl & Kazén)

Bei einem zwanghaften Persönlichkeitsstil – der einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung ähnelt, aber weniger stark ausgeprägt ist – sind die Betroffenen sorgfältig, pflichtbewusst und gewissenhaft und streben nach Perfektion. Sie sehen die Welt zwar nicht grundsätzlich negativ, haben aber die Einstellung, dass das Leben vor allem mit Mühe, Anstrengung und Pflichterfüllung verbunden ist.

Welche Symptome sind typisch für eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung?

Es besteht nach DSM ein tief greifendes Muster einer starken Beschäftigung mit Ordnung, Perfektion und psychischer sowie zwischenmenschlicher Kontrolle. Dieses geht auf Kosten von Flexibilität, Aufgeschlossenheit und Effizienz. Nach DSM müssen mindestens vier der folgenden Kriterien erfüllt sein:

  1. Die Betroffenen beschäftigen sich übermäßig mit Details, Regeln, Listen, Ordnung, Organisation oder Plänen, so dass der wesentliche Gesichtspunkt der Aktivität verloren geht.
  2. Sie zeigen einen Perfektionismus, der die Erfüllung von Aufgaben behindert. So können sie zum Beispiel ein Vorhaben nicht beenden, weil sie die eigenen überstrengen Normen nicht erfüllen können.
  3. Die verschreiben sich übermäßig der Arbeit und Produktivität und vernachlässigen Freizeitaktivitäten und Freundschaften. Dies ist nicht auf eine offensichtliche finanzielle Notwendigkeit zurückzuführen.
  4. Sie sind bei Fragen der Moral, Ethik und Werte übermäßig gewissenhaft und streng. Dies ist nicht auf die kulturelle oder religiöse Orientierung zurückzuführen.
  5. Sie sind nicht in der Lage, verschlissene oder wertlose Dinge wegzuwerfen, selbst wenn diese keinen Gefühlswert besitzen.
  6. Sie delegieren Aufgaben nur widerwillig an andere oder arbeiten nur ungern mit anderen zusammen, wenn diese nicht genau ihre eigene Arbeitsweise übernehmen.
  7. Sie sind sich selbst und anderen gegenüber geizig, weil sie glauben, Geld im Hinblick auf befürchtete künftige Katastrophen horten zu müssen.
  8. Sie sind halsstarrig und beharren starr auf ihrer Meinung oder ihren Wertvorstellungen.

Die ICD-10 listet ähnliche Merkmale auf wie das DSM.

Abgrenzung zur Zwangsstörung

Während eine Zwangsstörung oft erst später im Leben entsteht und bei den Betroffenen deutliches Leiden hervorruft, sind die Symptome bei einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung tiefgreifender und bestehen oft schon seit der Kindheit oder Jugend. Außerdem sehen die Betroffenen ihre typischen Verhaltensmerkmale meist nicht als „gestört“ an.

Bei einer Zwangsstörung drängen sich den Betroffenen bestimmte Gedanken und Handlungen regelrecht auf – sie „müssen“ sich zum Beispiel immer wieder die Hände waschen oder bestimmte Zahlenfolgen aufsagen. Dies ist bei einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung nicht der Fall.

Wie häufig kommt eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung vor?

Die Häufigkeit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung liegt bei etwa zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung. Männer sind doppelt so häufig betroffen wie Frauen.

Die Betroffenen leiden häufig auch an einer Depression. Auch Zwangsstörungen können gleichzeitig vorkommen, wobei beide Störungen vermutlich keine gemeinsame Ursache haben.

Was sind mögliche Ursachen der zwanghaften Persönlichkeitsstörung?

Auch bei dieser Störung wird ein Zusammenspiel von biologischen, psychischen und umweltbezogenen Faktoren angenommen.

Die psychoanalytische Sicht geht davon aus, dass die Betroffenen eine sehr strenge und bestrafende Sauberkeitserziehung erlebt haben und dadurch ein extrem strenges „Über-Ich“ entwickelt haben. Sie haben deshalb sehr hohe Ansprüche an Sauberkeit und Ordnung, aber auch eine starke Gehemmtheit entwickelt. Außerdem wird angenommen, dass die Betroffenen als Kind mit den Eltern um Kontrolle gekämpft haben. Dabei haben sie aggressive Impulse entwickelt, die sie aber zu unterdrücken versuchen. Dies geschieht dadurch, dass sie sich sehr kontrolliert verhalten und starr an Regeln und Gewohnheiten festhalten. Allerdings sind diese Annahmen bisher kaum durch wissenschaftliche Befunde belegt.

Aus Sicht der kognitiven Therapie spielen bestimmte Denkprozesse bei der Aufrechterhaltung der Störung eine Rolle. So denken die Betroffenen oft in Schwarz-Weiß-Kategorien und befürchten bei eigenen Fehlern übertriebene negative Folgen. Dies führt dazu, dass sie sich starr und rigide, perfektionistisch, aber auch sehr zögerlich verhalten.

Behandlung der zwanghaften Persönlichkeitsstörung

Psychotherapeutische Ansätze

Auch Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung beginnen vor allem dann eine Psychotherapie, wenn sie unter anderen psychischen Störungen – meist Angststörungen oder Depressionen – leiden. Oft haben sie eine hohe Motivation, die Therapie erfolgreich abzuschließen und sind deswegen auch bei Schwierigkeiten bereit, durchzuhalten. Deshalb können in einer längerfristigen Therapie oft deutliche Verbesserungen erreicht werden.

In der Therapie geht es weniger darum, grundlegende Persönlichkeitsmerkmale wie Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit zu verändern, die für die Betroffenen teilweise auch nützlich sein können. Stattdessen sollen die Patienten lernen, mit Problemen und Konflikten besser umzugehen und dabei auch neue Herangehensweisen auszuprobieren. Sie werden angeregt, neue Erfahrungen zu machen und in ihrem Leben auch Dinge, die Spaß machen, zuzulassen.

Während bei einer Zwangsstörung die kognitive Verhaltenstherapie als effektivste Therapieform gilt, können bei einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung unterschiedliche Therapieansätze von Nutzen sein.

Mögliche Probleme in der Psychotherapie und Lösungsansätze

Eine mögliche Schwierigkeit in der Therapie ist, dass die Patienten starr an ihren bisherigen Einstellungen oder Verhaltensweisen festhalten. Deshalb ist es wichtig, ihre Motivation zu fördern, Veränderungen zuzulassen und Bereiche ihres Lebens neu zu gestalten. Außerdem kommt es vor, dass sich die Patienten bei Schilderungen in Details verlieren. In diesen Fällen sollte Therapeut aktiv in das Gespräch eingreifen und immer wieder darauf hinweisen, dass es um aktuelle Themen und Probleme gehen soll.

Psychoanalytische und tiefenpsychologisch-fundierte Therapie

In der Regel wird bei der Störung eine längerfristige Therapie als sinnvoll angesehen. Die Therapie sollte klar strukturiert sein und sich auf Themen aus der Gegenwart beziehen. Dabei sollte der Therapeut den Patienten allmählich behutsam über seine problematischen Verhaltensweisen und ihre Folgen aufklären.

In der Therapie wird darauf hingearbeitet, dass die Patienten ihre Unsicherheit überwinden, eher bereit sind, Risiken einzugehen und den Mut haben, ihre Lebensbedingungen zu verändern. Außerdem können überstrenge Normen, die die Betroffenen von ihren Eltern übernommen und verinnerlicht haben, hinterfragt werden. Die Patienten sollen allmählich mehr Zugang zu ihren Gefühlen bekommen, die hinter dem zwanghaften Verhalten stecken, und diese Gefühle akzeptieren. Es wird auch darauf hingearbeitet, dass sie offener über ihre Gedanken und Gefühle sprechen können.

Kognitive Verhaltenstherapie

Um dem Bedürfnis der Patienten nach einem rationalen, geordneten Vorgehen entgegenzukommen, werden eine klar strukturierte Therapie und ein eher sachliches Vorgehen als sinnvoll angesehen. So ist zum Beispiel der Ablauf der einzelnen Stunden vorgegeben, und die Patienten sollen zwischen den Stunden Hausaufgaben bearbeiten.

Wichtige Ziele in der Therapie sind, den Perfektionismus, das Schwarz-Weiß-Denken sowie die Unentschlossenheit und Zögerlichkeit der Patienten zu hinterfragen und allmählich zu verändern. Es wird versucht, starre Gedanken und Verhaltensweisen beim Umgang mit Problemen durch flexiblere, zielführendere Gedanken und Verhaltensweisen zu ersetzen. Außerdem wird daran gearbeitet, dass die Patienten ihre Gefühle besser wahrnehmen und ihr Handeln stärker an ihren Gefühlen ausrichten können.

Gruppentherapie

Auch eine Gruppentherapie kann für die Betroffenen hilfreich sein. Hier werden sie angeregt, ihre bisherigen Vorstellungen und Verhaltensweisen im Alltag sowie ihre Vorstellungen über sich selbst und andere Menschen zu hinterfragen. Gleichzeitig sollen sie mit neuen Denkansätzen und Verhaltensweisen experimentieren.

Therapie mit Psychopharmaka

Psychopharmaka werden meist nicht als sinnvoll angesehen, um eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung zu behandeln. Sie werden meist nur eingesetzt, wenn gleichzeitig eine andere psychische Störung wie eine Depression oder eine Angststörung besteht.

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