Persönlichkeitsmerkmale als störende Belastung (Seite 2/16)

Entstehung und typischer Verlauf

Ein typisches Merkmal von Persönlichkeitsstörungen ist, dass sie in der Kindheit oder Jugend beginnen und dann auf Dauer bestehen. Deshalb gibt es – wie bei vielen anderen psychischen Störungen – auch keine Phasen, in denen die Störung stärker oder schwächer ausgeprägt ist oder ganz verschwindet. Allerdings kommt es häufig vor, dass eine Persönlichkeitsstörung mit zunehmendem Alter weniger schwer ausgeprägt ist.

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell

Um die Entstehung von Persönlichkeitsstörungen zu erklären, wird meist ein so genanntes Vulnerabilitäts-Stress-Modell verwendet. Es geht davon aus, dass die Störung durch das Zusammenspiel von biologischen bzw. genetischen Faktoren, psychischen Eigenschaften und ungünstigen Umweltbedingungen entsteht.

So könnten manche Menschen biologisch bedingt eine erhöhte Vulnerabilität (Verletzlichkeit) dafür haben, eine Persönlichkeitsstörung zu entwickeln. Es wird vermutet, dass sie durch genetische Besonderheiten stärker gefährdet sind als andere, emotional besonders sensibel zu reagieren, impulsiv zu sein, starke Gefühlsschwankungen zu erleben oder stark ausgeprägte, unflexible Verhaltensmuster zu entwickeln. Auch ungünstige Einflüsse vor, während oder kurz nach der Geburt könnten zur Entwicklung auffälliger Persönlichkeitsmerkmale beitragen.

Kommen in der Kindheit und Jugend starke psychische Belastungen hinzu, kann das die Entstehung einer Persönlichkeitsstörung begünstigen. Dazu gehören zum Beispiel ein ungünstiges Erziehungsverhalten der Eltern, traumatische Erfahrungen wie sexueller Missbrauch oder Misshandlungen oder eine psychische Erkrankung beim Vater oder der Mutter. Diese negativen Erfahrungen können zu bestimmten Verhaltensweisen führen, die sich mit der Zeit zu einem typischen Persönlichkeitsmuster entwickeln. Dieses Muster kann sich phasenweise weiter verstärken, wenn über längere Zeit zwischenmenschliche Konflikte bestehen. Auf der anderen Seite können positive Bedingungen, zum Beispiel Verständnis und Unterstützung von anderen, der Entwicklung ungünstiger Verhaltensmuster entgegenwirken.

In diesem Modell lassen sich die typischen Persönlichkeitsmuster auch als psychische Kompetenzen verstehen, die die Betroffenen einsetzen, um sich vor psychischen Belastungen zu schützen – die sich allerdings langfristig ungünstig auswirken. So kann das emotional wechselhafte, impulsive Verhalten bei einer Borderline-Persönlichkeitsstörung als Versuch verstanden werden, von seinen Mitmenschen Aufmerksamkeit und Unterstützung zu bekommen.

Aus Sicht der Lernpsychologie treten die auffälligen Verhaltensmuster häufiger auf, wenn sie kurzfristig „belohnt“ werden – wenn jemand also tatsächlich Aufmerksamkeit und Fürsorge erhält. Langfristig führt dies aber zu einem Teufelskreis: Das typische Verhalten – zum Beispiel abrupte Gefühlsausbrüche, wenig einfühlsames Verhalten oder aggressive Reaktionen – stößt bei anderen Menschen auf Ablehnung, Kritik oder sogar Feindseligkeit. Dadurch nehmen die zwischenmenschlichen Spannungen und Missverständnisse mit der Zeit immer mehr zu.

Das Modell der doppelten Handlungsregulation (nach Sachse)

Der Psychotherapeut Rainer Sachse hat ein Modell entwickelt, dass erklären soll, wie Persönlichkeitsstörungen entstehen und wodurch sie aufrechterhalten werden. Aus diesem „Modell der doppelten Handlungsregulation“ leitet Sachse therapeutische Strategien für die einzelnen Persönlichkeitsstörungen ab (Klärungsorientierte Psychotherapie).

Das Modell geht davon aus, dass jeder Mensch bestimmte Motive hat – zum Beispiel ein Motiv nach Anerkennung und Wertschätzung, ein Motiv nach verlässlichen Beziehungen und ein Motiv nach Autonomie. Außerdem besitzt jeder Mensch bestimmte Schemata: Annahmen über sich selbst, die Welt und zwischenmenschliche Beziehungen, die durch Erfahrungen im Lauf des Lebens entstehen.

Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung haben nach Sachse immer wieder erlebt, dass wichtige Beziehungsmotive enttäuscht wurden – zum Beispiel das Motiv nach Wertschätzung. Dadurch ist dieses Motiv für sie sehr wichtig. Andererseits haben sie mit der Zeit negative Schemata über sich selbst und über Beziehungen entwickelt – etwa die Annahme, dass sie zu wertlos ist, um von anderen geschätzt zu werden.

Dieses Dilemma wird laut Sachse nun durch so genannte „Interaktionsspiele“ gelöst. Das bedeutet, dass die Betroffenen sich manipulativ und undurchsichtig verhalten. Sie haben zum Beispiel die Erfahrung gemacht, dass sie für bestimmte Verhaltensweisen kurzzeitig Wertschätzung erhalten – etwa, wenn sie sich besonders unterhaltsam geben oder mit ihren Leistungen prahlen. Deshalb verhalten sie sich sehr oft auf diese Weise. Zusätzlich versuchen sie, bei anderen Menschen ein bestimmtes Bild von sich zu erzeugen und sie so zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. Jemand mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung versucht zum Beispiel, sich ständig als „erfolgreicher, allseits geschätzter Geschäftsmann“ darzustellen, um dadurch Aufmerksamkeit und Bewunderung zu erhalten.

Das eigentliche Motiv, Wertschätzung zu erfahren, wird auf diese Weise aber immer nur indirekt und kurzfristig befriedigt – denn andere können das Bedürfnis nicht erkennen und nicht direkt darauf eingehen. Stattdessen empfinden sie das Verhalten als undurchsichtig, unecht oder manipulativ und reagieren mit Genervtheit, Ärger oder Langeweile. Dadurch kommt es wiederum zu massiven Problemen in den zwischenmenschlichen Beziehungen.

Beeinflussen Persönlichkeits­stö­run­gen andere psychische Krankheiten?

Untersuchungen zeigen, dass die Behandlung psychischer Erkrankungen – zum Beispiel einer Depression oder einer Angststörung – schwieriger ist, wenn gleichzeitig eine Persönlichkeitsstörung besteht. Bestimmte Persönlichkeitsmuster können sich aber auf den Erfolg einer Psychotherapie auch günstig auswirken. Das ist häufig bei einer dependenten Persönlichkeitsstörung der Fall – vermutlich, weil die Betroffenen in der Therapie besonders loyal sind und gut mitarbeiten.

Umgekehrt bessert sich eine Persönlichkeitsstörung in manchen Fällen stärker, wenn gleichzeitig eine andere psychische Erkrankung vorliegt. Das wurde zum Beispiel bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung und antisozialer Persönlichkeitsstörung beobachtet, die gleichzeitig an einer Depression litten. Der Grund könnte sein, dass die Patienten durch die Depression belastet waren und deshalb stärker motiviert waren, etwas zu verändern.

Einige Experten kritisieren, dass Persönlichkeitsstörungen in einer Psychotherapie oder einer psychiatrischen Behandlung oft gar nicht erkannt werden – und deshalb auch nicht mit geeigneten Methoden behandelt werden. Sie gehen davon aus, dass die Prognose deutlich günstiger sein könnte, wenn die Persönlichkeitsstörung rechtzeitig erkannt und die Therapie entsprechend gestaltet wird.