Bindung und Beziehungsfähigkeit
15.09.2023 Von Dr. Christine Amrhein
- Menschen haben das Bedürfnis, enge emotionale Beziehungen und Bindungen zu anderen Menschen einzugehen.
- Die Bindungstheorie unterscheidet verschiedene Bindungstypen. Sie werden durch das Verhalten der Bezugspersonen in der frühen Kindheit geprägt. Oft bestehen sie bis ins Erwachsenenalter fort.
- Störungen der Bindungsfähigkeit bei Kindern entstehen oft durch negative Erfahrungen oder ungünstiges Bindungsverhalten der Eltern in der frühen Kindheit. Bei der Behandlung ist ein liebevolles, verlässliches und feinfühliges Verhalten der Bezugspersonen wichtig.
- Auch bei Erwachsenen kommen Trennungsangst oder problematisches Bindungsverhalten vor. Leidet jemand unter den Problemen und sind wichtige Lebensbereiche beeinträchtigt, sollten die Betroffenen sich professionelle Unterstützung suchen.
- Eine Psychotherapie kann helfen, Bindungsstörungen zu überwinden. Dabei werden problematische Beziehungsmuster aufgedeckt und ein Zusammenhang mit Bindungserfahrungen in der Kindheit hergestellt. Zugleich wird das Selbstvertrauen gestärkt und neue, günstigere Bindungsmuster entwickelt.
Menschen wünschen sich Kontakt und Austausch mit anderen Menschen und nahe, liebevolle und verlässliche Beziehungen, etwa zu ihrem Partner und ihren Kindern. Viele Menschen in westlichen Gesellschaften leben aber auch längere Zeit als Single oder nicht in langfristigen, festen Beziehungen. So war laut einer Umfrage in Deutschland im Jahr 2023 etwa ein Drittel der Menschen von 18 bis 65 Jahren Single. Viele von ihnen wünschen sich jedoch eine feste Beziehung. Kann jemand keine nahen, verbindlichen Beziehungen aufbauen oder scheitern sie immer wieder, kann das sehr belastend sein. Aber auch die starke Angst, nahe Bezugspersonen zu verlieren – etwa durch Tod oder eine Trennung – kann Menschen stark belasten. Wichtig ist in diesen Fällen, sich Unterstützung zu suchen, etwa in Form einer Psychotherapie.
Was ist Beziehungsfähigkeit?
Was unter Beziehungsfähigkeit verstanden wird, kann in verschiedenen Kulturen unterschiedlich sein. In westlichen Kulturen versteht man darunter, dass jemand sich in Beziehungen flexibel und an die Situation angemessen verhält. Dabei achtet er oder sie zugleich auf die Bedürfnisse anderer Menschen und auf die eigenen Bedürfnisse. Die Betroffenen sind außerdem bereit, bei zwischenmenschlichen Beziehungen dazuzulernen und sich weiterzuentwickeln.
Was ist Bindung?
Bindungstheorie nach Bowlby
Die Bindungstheorie wurde ab den 1940er Jahren vom Kinderpsychiater John Bowlby entwickelt und ist eine etablierte Theorie der Psychologie. Demnach haben Menschen ein angeborenes Bedürfnis, enge emotionale Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen. Sie beginnen im Säuglingsalter mit einer engen Beziehung zwischen dem Kind und seiner Mutter oder einer anderen nahen Bezugsperson.
Im Falle von Gefahr sucht das Kind Schutz und Beruhigung bei seinen Bezugspersonen. Auch wenn das Kind den Wunsch nach Nähe und Kontakt spürt, sucht es die Nähe seiner Bezugspersonen. Hat das Kind die Nähe, die es braucht, fühlt es sich sicher und kann sich der Umgebung zuwenden, die es neugierig erkundet.
Für die Qualität von Bindungen im späteren Leben ist nach Bowlby entscheidend, wie feinfühlig die Bezugspersonen auf die Bedürfnisse des Kindes reagieren. Feinfühlig bedeutet, dass sie die Bedürfnisse des Kindes wahrnehmen und unmittelbar und angemessen darauf reagieren.
Nach Bowlby sind die ersten sechs Lebensmonate die Zeit, die das spätere Bindungsverhalten am stärksten prägen. Aber auch spätere günstige oder ungünstige Bindungserfahrungen, etwa in der späteren Kindheit, in der Jugend oder im Erwachsenenalter können das Bindungsverhalten beeinflussen.
Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass neben der Beziehung zur Mutter auch die Beziehung zum Vater und anderen nahen Bezugspersonen wichtig ist.
Um stabile Bindungen aufzubauen, ist nicht unbedingt eine einzige, zentrale Bindungsperson notwendig. Eine gute Bindungsfähigkeit ist auch möglich, wenn das Kind mehrere, wechselnde Bindungspersonen hat – etwa, wenn es zeitweise von einer Pflegemutter betreut wird.
Studien haben gezeigt, dass bei zwischenmenschlichen Bindungen Botenstoffe im Gehirn, so genannte Neurotransmitter, eine wichtige Rolle spielen. Dazu gehören das Bindungshormon Oxytocin, das „Belohnungshormon“ Dopamin und endogene Opioide. Sie werden bei Berührungen und zwischenmenschlicher Nähe ausgeschüttet und lösen positive Gefühle und das Gefühl von Nähe und Verbundenheit aus. Das führt dazu, dass jemand die Nähe zu diesem Menschen immer wieder erleben möchte – es entsteht eine Bindung zu dieser Person.