Ziel ist die gleichwertige Versorgung

Zugänge zum Sozial- und Gesundheitswesen müssen für Migrant:innen und Geflüchtete erleichtert werden

Die EU und Deutschland haben sich eine gleichwertige gesundheitliche Versorgung von Migrant:innen und Einheimischen zum Ziel gesetzt.

So werden in Deutschland mit dem „Integrationsplan Migration“ von 2010 eine interkulturelle Öffnung und ein gleichwertiger Zugang zu Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitssystems für Migrant:innen angestrebt. Das umfasst auch eine kultursensible Diagnostik und Psychotherapie.

Laut Expert:innen ist die psychotherapeutische Versorgung von Migrant:innen und Geflüchteten in der Praxis aber deutlich unzureichend.

Bedarfsplanung

Um eine angemessene psychosoziale Versorgung für Migrant:innen zu ermöglichen, müssen sie zunächst bei der Bedarfsplanung im Sozial- und Gesundheitswesen berücksichtigt werden. Dazu sollten gesundheitliche Merkmale verschiedener ethnischer Gruppen und ihr gesundheitlicher Bedarf genauer erfasst und erforscht werden.

Gezielte Screenings und Präventionsmaßnahmen

Wichtig wäre auch, bereits während oder kurz nach der Einreise gezielte Screenings zur psychischen Gesundheit von Migrant:innen durchzuführen. Auf diese Weise könnten zum Beispiel Geflüchtete mit Trauma-Störungen oder anderen psychischen Erkrankungen frühzeitig erkannt werden. Weiterhin wäre es sinnvoll, wenn Migrant:innen und Geflüchtete gezielt Präventionsmaßnahmen für ihre psychische Gesundheit erhalten würden.

Um für Migrant:innen den Zugang zu Angeboten im Sozial- und Gesundheitswesen zu verbessern, sollten Mitarbeitende in der Öffentlichkeitsarbeit oder in Flüchtlingsunterkünften gezielt auf psychotherapeutische Angebote aufmerksam machen. Dabei können sie auf konkrete Therapieangebote im Umfeld der Betroffenen hinweisen und Kontakte vermitteln. Sinnvoll ist auch, wenn sich verschiedene Berufsgruppen für die psychosoziale Versorgung von Migrant:innen miteinander vernetzen. So können interkulturell arbeitende Psychotherapeut:innen gezielt mit Einrichtungen für Geflüchtete zusammenarbeiten. Um Migrant:innen mit den Angeboten im Gesundheitswesen vertrauter zu machen und ihnen den Weg dorthin zu erleichtern, sollten Informationen in verschiedenen Sprache bereitgestellt werden.

Sinnvoll ist auch, die psychosoziale und psychotherapeutische Versorgung an die Phase des Aufenthalts in Deutschland anzupassen. So können am Anfang zunächst unterstützende, stabilisierende Maßnahmen durchgeführt werden. Bei einem längerfristigen, gesicherten Aufenthalt kann dann eine umfassendere Psychotherapie erfolgen.

Um die psychische Gesundheit zu verbessern, wäre aber auch eine Verbesserung der Lebensbedingungen von Geflüchteten und Migrant:innen sehr wichtig. Dazu gehören vor allem beschleunigte Asylverfahren, die schnellere Vermittlung in eine Ausbildung oder Arbeitsstelle und Sprachkurse.

Bessere und mehr Ausbildung in interkultureller Kompetenz nötig

Psychotherapie für Migrant:innen und Geflüchtete setzt kulturelle Kenntnisse voraus

Da immer mehr Menschen aus anderen Kulturen in Deutschland leben, fordern Expert:innen schon seit Längerem und mittlerweile auch zunehmend Praktiker:innen, dass Psychotherapeut:innen und auch psychiatrisch und psychosomatisch tätige Ärzt:innen interkulturelle Kompetenzen erwerben sollten.

Mit dem erkennbar gestiegenen Bedarf an interkulturellen oder transkulturellen Psychotherapie-Angeboten kann das nur leicht gestiegene Versorgungsangebot nicht mithalten. Es besteht weiterhin eine deutliche Unterversorgung und ein großer Verbesserungsbedarf bei den Angeboten und ein signifikanter Nachholbedarf hinsichtlich einer adäquaten Ausbildung von Psychotherapeut:innen.

Laut der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) sollten interkulturelle Kompetenzen fester Bestandteil der Ausbildung zum psychologischen oder ärztlichen Psychotherapeuten sowie von Fort- und Weiterbildungen und Supervisionen sein.

In der neuen Musterweiterbildungsordnung für Psychotherapeut:innen von 2022 und in den Musterweiterbildungsordnungen zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und zum Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie von 2018 werden interkulturelle Inhalte zwar als Bestandteil der Ausbildung erwähnt, spielen aber eher eine untergeordnete Rolle.

Ausbildungskandidat:innen müssen sich bisher selbst darum bemühen, interkulturelle Kompetenzen zu erwerben. Weiterhin gibt es bisher wenig Forschung, die die Wirksamkeit von interkulturellen Ansätzen untersucht und so zum Beispiel Aussagen darüber ermöglichen würde, welche Ansätze besonders wirksam sind.

Für Psychotherapeut:innen bietet das Erlernen interkultureller Kompetenzen die Chance, ihre fachlichen Fähigkeiten zu erweitern und in einem interessanten neuen Tätigkeitsfeld zu arbeiten. Insgesamt kann die therapeutische Arbeit mit Patient:innen aus anderen Kulturen auch dazu beitragen, neue psychotherapeutische Ansätze und Methoden zu entwickeln und das Gebiet der Psychotherapie weiterzuentwickeln.

Leitlinien für die Ausbildung in interkultureller Kompetenz

Um eine hohe Qualität von Trainings und Ausbildungsinhalten für interkulturelle Kompetenz zu gewährleisten, haben Arbeitsgruppen an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) Leitlinien für die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Psychotherapeut:innen in interkultureller Kompetenz entwickelt. Sie können im Internet heruntergeladen werden. Laut dieser Leitlinien sollen unter anderem folgende wichtige Aspekte vermittelt werden:

  • Fakten und Modelle zum Thema Migration
  • Kenntnisse der Versorgungsstrukturen für Migrant:innen in Deutschland und der rechtlichen Grundlagen für die psychotherapeutische Versorgung von Migrant:innen
  • Informationen über Aspekte, die in verschiedenen Kulturen eine Rolle spielen, wie soziale Milieus, Werte und Normen, Traditionen, Individualismus versus Kollektivismus, Rollenverständnis, Familienstrukturen, Religion und Religiosität, Tabuthemen oder schambesetzte Themen und der Themenbereich Ehre, Schuld und Scham
  • Informationen zu kulturell unterschiedlichen Konzepten von Gesundheit und Krankheit
  • Informationen zum Verständnis von Psychotherapie in verschiedenen Kulturen
  • Sensibilisierung für mögliche Konfliktherde und Stolperfallen in der interkulturellen Psychotherapie; Umgang mit kulturspezifisch schwierigen Therapiesituationen und Missverständnissen
  • Vermittlung kultursensibler Kommunikationstechniken und beziehungsfördernder Strategien bei interkulturellen Therapiebeziehungen
  • Sensibilisierung für die Themen Rassismus, Diskriminierung und Vorurteile, zum Beispiel Ausgrenzungs- und Minderheitenerfahrungen von Migrant:innen
  • Sensibilisierung für die Gefahr einer Kulturalisierung, also einer Haltung, bei der kulturelle, ethnische und religiöse Unterschiede stark betont werden
  • Umgang mit Sprachbarrieren

Bei der Selbsterfahrung soll es laut Leitlinien darum gehen, sich die eigene kulturelle Prägung, eigene Normen und Werte, eigene Vorurteile und Stereotypen und mögliche Abwehrmechanismen gegenüber Fremdem und anderen Kulturen bewusst zu machen und sich kritisch damit auseinanderzusetzen. Mit Stereotypen sind dabei vereinfachte, starre Vorstellungen von Personen oder Gruppen gemeint. Weiterhin sollen sich die Ausbildungsteilnehmer:innen mit eigenen Unsicherheiten und negativen Gefühlen bei der therapeutischen Arbeit mit Migrant:innen, eigenen Toleranzgrenzen und der eigenen Toleranz gegenüber Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten kritisch auseinandersetzen.

Neben den Leitlinien entwickelten die Arbeitsgruppen ein zweitägiges interkulturelles Kompetenztraining mit 18 Unterrichtseinheiten, das am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf angeboten wird. Wichtige Inhalte des Trainings sind grundlegende Konzepte von interkultureller Psychotherapie, das Verständnis anderer Kulturen, Fremdheitserfahrungen im Alltag und bei der psychotherapeutischen Arbeit, eine kultursensible Diagnostik und die Arbeit mit Dolmetscher:innen. Dabei wird zum einen theoretisches Wissen vermittelt, zum anderen werden praktische Übungen und Rollenspiele durchgeführt. Ein wichtiger Bestandteil ist auch die Selbsterfahrung und Selbstreflexion bei interkulturellen Begegnungen.