Persönlichkeitsmerkmale als störende Belastung (Seite 12/16)

Selbstunsicher

Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung

Bei einer selbstunsicheren (auch: ängstlichen oder ängstlich-vermeidenden) Persönlichkeitsstörung fühlen sich die Betroffenen ständig unsicher, minderwertig, angespannt und besorgt. Gleichzeitig sehnen sie sich permanent nach Zuneigung und danach, von anderen akzeptiert zu werden.

Andauernde Selbstzweifel und Überempfindlichkeit

Sie leiden unter dauernden Selbstzweifeln und reagieren überempfindlich auf Kritik und Zurückweisungen. Deshalb vermeiden sie häufig bestimmte Situationen und Aktivitäten. Enge Beziehungen zu anderen Menschen gehen sie nur dann ein, wenn sie sicher sind, von ihnen akzeptiert zu werden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Persönlichkeitsstörungen leiden die Betroffenen unter ihrem Verhalten und empfinden es oft selbst als Problem.

Jochen ist 33 Jahre alt und arbeitet seit acht Jahren als Buchhalter. Diesen Job hat er direkt nach dem Hochschul-Abschluss bekommen. Er berichtet, schon in seiner Kindheit ein stiller, schüchterner und ängstlicher Junge gewesen zu sein. Daran habe sich seither wenig geändert. In seinem Job arbeitet er meist für sich allein, geht in den Mittagspausen allein essen und beteiligt sich auch nicht, wenn andere sich in den Pausen unterhalten oder im Büro Späße machen. Sein Vorgesetzter beschreibt, dass Jochen seine Arbeit effizient macht, aber ein bisschen seltsam und ein stiller Einzelgänger sei.

Auch im Privatleben hat Jochen kaum soziale Kontakte. Seit fünf Jahren ist er nicht mehr zu Partys und Festlichkeiten gegangen und hat auch keine Verabredung mehr gehabt. Kontakt hat er nur zu seinen Eltern und zwei Freunden, die er gelegentlich trifft. Seine Freizeit verbringt er hauptsächlich allein – mit Lesen, Fernsehen und Tagträumen. Im Grunde genommen sehnt er sich nach mehr Kontakten und nach einer Freundin, hat aber große Angst davor, dass neue Menschen ihn ablehnen könnten.

Schwierig wird es für Jochen immer dann, wenn neue Mitarbeiter in die Abteilung kommen, was in jedem Jahr ein paar Mal der Fall ist. Nun hat sich seit einiger Zeit im Büro eine Clique gebildet, zu der Jochen gern dazugehören würde. Er hat aber auch Angst davor, weil er befürchtet, dass sie ihn langweilig finden könnten und er ihnen „nichts zu bieten“ hat. Nach einiger Zeit wird er selbst zur Zielscheibe des Spotts: Mehrere Wochen lang wird er von der Clique ständig auf den Arm genommen. Schließlich fängt er an, bei der Arbeit zu fehlen, kann seine Berichte nicht rechtzeitig fertig stellen und macht bei der Arbeit viele Fehler. Außerdem leidet er oft an Kopfweh und Magenbeschwerden. Aus Angst, seinen Job zu verlieren, wendet er sich schließlich an eine Therapeutin.

Übergänge zur Normalität – selbstunsicherer Persönlichkeitsstil (nach Kuhl & Kazén)

Menschen mit einem selbstunsicheren Persönlichkeitsstil – der einer selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung ähnelt, aber weniger stark ausgeprägt ist – sind selbstkritisch und eher vorsichtig und zurückhaltend. Sie reagieren sensibel auf Kritik und Zurückweisung und neigen dazu, ihre eigenen Erwartungen und Vorstellungen zu verändern, wenn andere Menschen andere Einstellungen haben. Weil sich die Betroffenen nicht in den Vordergrund drängen, verlässlich sind und sich bei Konflikten um Ausgleich bemühen, finden sie bei anderen Menschen häufig Anerkennung.

Welche Symptome sind typisch für eine selbstunsichere Persönlichkeitsstörung?

Die Betroffenen haben nach DSM ein tief greifendes Muster sozialer Gehemmtheit und ein ständiges Gefühl der Unzulänglichkeit und sind überempfindlich gegenüber negativer Beurteilung. Es müssen mindestens vier der folgenden Kriterien erfüllt sein:

  1. Die Betroffenen vermeiden aus Angst vor Kritik, Missbilligung oder Zurückweisung berufliche Aktivitäten, die engere zwischenmenschliche Kontakte mit sich bringen.
  2. Sie lassen sich nur widerwillig mit Menschen ein, wenn sie nicht sicher sind, dass sie gemocht werden.
  3. Sie verhalten sich aus Angst, beschämt oder lächerlich gemacht zu werden, auch in intimen Beziehungen zurückhaltend.
  4. Sie sind stark von der Angst eingenommen, in sozialen Situationen kritisiert oder abgelehnt zu werden.
  5. Aufgrund der Gefühle der eigenen Unzulänglichkeit sind sie in neuen zwischenmenschlichen Situationen gehemmt.
  6. Sie halten sich für gesellschaftlich unbeholfen, persönlich unattraktiv und unterlegen gegenüber anderen Menschen.
  7. Sie vermeiden persönliche Risiken und neue Unternehmungen, weil diese sich als beschämend erweisen könnten.

In der ICD-10 wird die Störung sehr ähnlich beschrieben wie im DSM.

Abgrenzung zur sozialen Phobie

Eine selbstunsichere Persönlichkeitsstörung ähnelt in vielen Aspekten einer sozialen Phobie. Der wesentliche Unterschied ist jedoch, dass die Symptome hier tiefgreifender sind, länger bestehen und von den Betroffenen eher als Teil ihrer Persönlichkeit erlebt werden. Die Ängste beziehen sich dabei auf unterschiedlichste soziale Situationen, und das Selbstwertgefühl ist sehr gering ausgeprägt.

Bei einer sozialen Phobie bestehen dagegen Ängste in einigen konkreten Situationen (zum Beispiel Angst vor öffentlichem Reden, Unsicherheit gegenüber Fremden). Außerdem kann eine soziale Phobie erst später im Leben entstehen, wird weniger als Teil der eigenen Persönlichkeit erlebt und geht durch eine Therapie oft vollständig wieder zurück.

Wie häufig kommt eine selbstunsichere Persönlichkeitsstörung vor?

Die Häufigkeit der selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung liegt bei etwa einem bis zwei Prozent der Bevölkerung. Dabei sind Männer und Frauen vermutlich gleich häufig betroffen.

Oft treten gleichzeitig mit der Störung auch Depressionen oder Angststörungen auf. Außerdem kommt sie häufig zusammen mit einer dependenten oder einer Borderline-Persönlichkeitsstörung vor.

Was sind mögliche Ursachen der selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung?

Wie bei den anderen Persönlichkeitsstörungen wird ein Zusammenspiel von biologischen, psychischen und umweltbezogenen Faktoren angenommen. Studien legen nahe, dass die Betroffenen genetisch bedingt dazu neigen, sich innerlich unruhig, angespannt, nervös und leicht verletzbar zu fühlen. Wenn zusätzlich negative psychische oder soziale Einflüsse hinzukommen, kann dies die Entstehung der Störung begünstigen.

Psychoanalyse und Verhaltenstherapie sehen Ursachen in der Kindheit

Aus Sicht der Psychoanalyse trägt ein abwertendes und emotionsarmes Verhalten der Eltern oder eine Neigung, ihre Kinder lächerlich zu machen, zur Entstehung der Störung bei. Dieses Verhalten führt dazu, dass sich die Betroffenen selbst abwerten, kein Selbstwertgefühl entwickeln und zu negativen und selbstkritischen Gedanken neigen.

Auch die kognitive Verhaltenstherapie sieht eine Ursache der Problematik darin, dass die Betroffenen in ihrer Kindheit wiederholt Ablehnung und Kritik erlebt haben. Dadurch haben sie ein negatives Selbstbild und negative Denkmuster über sich selbst entwickelt. Aus Angst vor Abwertung vermeiden sie von nun an Freundschaften und viele Arten von sozialen Kontakten. Dies führt dazu, dass sie wenig soziale Fertigkeiten entwickeln, sich in vielen Situationen unzulänglich fühlen und sich mit der Zeit immer mehr zurückziehen.

Behandlung von selbstunsicheren Persönlichkeitsstörungen

Psychotherapeutische Ansätze

Die selbstunsichere Persönlichkeitsstörung wird in erster Linie mit Psychotherapie behandelt, und diese kann den Betroffenen oft gut helfen. Weil viele unter ihrem Verhalten leiden, sind sie oft von sich aus bereit, eine Therapie zu beginnen, und arbeiten dort besonders gut mit. In der Therapie werden ähnliche Methoden verwendet wie bei der Behandlung einer sozialen Phobie und anderer Angststörungen.

Bei einer selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung ist jedoch oft eine längerfristige Psychotherapie notwendig, um ausreichende Veränderungen zu erreichen.

Mögliche Probleme in der Psychotherapie und Lösungsansätze

Ein Problem in der Therapie kann sein, dass die Patienten befürchten, nicht wirklich gemocht und akzeptiert zu werden oder vom Therapeuten zurückgewiesen zu werden. Deshalb fangen sie oft an, die Therapiesitzungen zu meiden, oder brechen die Therapie ganz ab. Deshalb ist es wichtig, eine gute therapeutische Beziehung aufzubauen, bei der sich der Therapeut wertschätzend, einfühlsam und unterstützend verhält.

Für die Betroffenen ist es oft schwerer als für Patienten mit einer sozialen Phobie, sich auf Maßnahmen in der Therapie einzulassen oder Veränderungen einzuleiten. Oft haben sie ausgeprägte Ängste und Selbstzweifel und trauen sich nicht, sich auf bestimmte Therapiemethoden einzulassen. Deshalb sollte in der Therapie in kleinen Schritten vorgegangen werden und den Patienten genügend Zeit gelassen werden, bis sie sich selbst für eine Therapiemaßnahme entscheiden.

Psychoanalytische und tiefenpsychologisch-fundierte Therapie

Bei einer selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung kann sowohl eine psychoanalytische Langzeittherapie als auch eine tiefenpsychologische Kurzzeittherapie zum Einsatz kommen. Es wird als hilfreich angesehen, wenn in der Therapie die „Übertragung“ zwischen Therapeut und Patient zum Thema gemacht wird – das heißt, dass die Beziehung zwischen Therapeut und Patient genutzt wird, um typische Probleme und Unsicherheiten in Beziehungen aufzudecken und zu verändern. Außerdem können im Lauf der Therapie auch die biographischen Entwicklungsbedingungen der Störung bearbeitet werden.

Kognitive Verhaltenstherapie

Die kognitive Verhaltenstherapie gilt als der wirksamste Therapieansatz bei der Behandlung der Störung. Zu Beginn der Therapie werden die Patienten zunächst über die Ursachen, typischen Symptome und Folgen von sozialen Ängsten und Selbstunsicherheit aufgeklärt, was man auch als Psychoedukation bezeichnet.

Ein wichtiger Bestandteil der Therapie ist ein Training sozialer Kompetenzen. Es kann das Selbstbewusstsein der Patienten stärken und ihnen Fähigkeiten vermitteln, mit denen sie verschiedene soziale Situationen besser bewältigen können. Dazu werden oft konkrete Anleitungen, Verhaltensübungen und Rollenspiele mit Videofeedback eingesetzt.

Die Bearbeitung ungünstiger Denkmuster kann dazu beitragen, negative Sichtweisen der Betroffenen über sich selbst und ihre Umwelt zu verändern. Dabei lernen sie, pauschale negative Sichtweisen (zum Beispiel „Ich bin unfähig“ oder „Ich bin unattraktiv“) zu hinterfragen und durch positivere und differenziertere Sichtweisen zu ersetzen. Weiterhin wird in der Therapie daran gearbeitet, typische Alltagsprobleme des Patienten zu verändern.

Die Patienten können außerdem lernen, körperliche Symptome ihrer Angst und Unsicherheit zu verändern, zum Beispiel Schwitzen oder Erröten. Bei der paradoxen Intervention sollen sie diese Symptome genau beobachten und absichtlich hervorrufen oder noch weiter steigern. Dies führt in den meisten Fällen zu einer Gewöhnung und zu einer Abnahme der Angst. Auch eine Konfrontation mit verschiedenen Angstsituationen kann dazu beitragen, Ängste zu verringern.

Wenn sich die Betroffenen bereits deutlich selbstsicherer fühlen und neue soziale Fertigkeiten erworben haben, können sie im späteren Verlauf der Therapie dazu angeregt werden, über längerfristige Ziele in ihrem Leben und Möglichkeiten, diese zu erreichen, nachzudenken.

Gruppentherapie

In einer Gruppentherapie können die Patienten den Umgang mit sozialen Situationen zusammen mit Gleichgesinnten üben. So kann ein Training sozialer Fertigkeiten gut in einer Gruppe durchgeführt werden. Das Verhalten der anderen Gruppenteilnehmer kann dabei als Modell dienen, an dem die Patienten neue Verhaltensweisen (zum Beispiel selbstbewussteres Auftreten) lernen können. In der Gruppe können sie ihre Erfahrungen austauschen, sich gegenseitig Unterstützung geben und lernen, mit dem Feedback anderer Menschen umzugehen und selbst Feedback (zum Beispiel Lob oder konstruktive Kritik) zu geben.

Therapie mit Psychopharmaka

In manchen Fällen werden begleitend zur Psychotherapie angstlösende Antidepressiva eingesetzt. Sie können dazu beitragen, die Angst und das Unbehagen der Patienten zu verringern. Durch die Medikamente allein lassen sich jedoch meist keine langfristigen Verbesserungen erreichen.

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