Merkmale der inter­kul­turellen Psycho­therapie

Erfolgsaussichten der Therapie von Geflüchteten und Migranten erhöhen

Psychotherapeut:innen, die interkulturell arbeiten möchten, sollten gegenüber Menschen aus anderen Kulturen eine offene, neugierige und interessierte Haltung mitbringen und sich ihnen gegenüber respektvoll und wertschätzend verhalten. Sie sollten einfühlsam und überlegt mit kulturellen Unterschieden und mit den Denkweisen und Gefühlen ihrer Patient:innen umgehen. Dabei sollten sie auch Einstellungen, Wertvorstellungen und Meinungen aushalten können, die von ihren eigenen abweichen.

Wichtig ist auch, Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten, Unsicherheit, eigenes Nichtwissen und das Gefühl von Fremdheit wahrnehmen und aushalten zu können. Therapeut:innen sollten in ihrem Handeln flexibel sein und eine gewisse Stresstoleranz mitbringen. Sie sollten sich bewusst sein, dass Anamnese, Diagnostik und das therapeutische Vorgehen vielleicht mehr Zeit benötigen als bei Patient:innen ohne Migrationshintergrund, zum Beispiel durch Probleme bei der sprachlichen oder kulturellen Verständigung. Wichtig ist auch, sich mit sich selbst und der eigenen kulturellen Eingebundenheit auseinanderzusetzen.

Tragfähige therapeutische Beziehung aufbauen

Für eine erfolgreiche Psychotherapie ist es sehr wichtig, von Anfang an eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung aufzubauen. Dazu gehört, dass Therapeut:innen einfühlsam mit ihren Patient:innen umgehen und ihnen zeigen, dass sie ihre Anliegen ernst nehmen und ihnen helfen möchten. Gleichzeitig sollten sie vermitteln, dass sie viel über die Patientin oder den Patienten und ihren kulturellen Hintergrund erfahren möchten, um ein besseres Verständnis entwickeln zu können. Weiterhin sollten immer die Ziele und Bedürfnisse der Patient:innen berücksichtigt werden. Diese können aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur, zum Beispiel einer kollektivistischen Kultur, entstehen, aber auch durch die Migration und den Aufenthalt in Deutschland.

Um Schwierigkeiten in der therapeutischen Beziehung zu lösen, ist es wichtig, Übertragung und Gegenübertragung in der Therapie bewusst zu beobachten und zu bearbeiten. So könnte eine Therapeutin ihren Patienten in der Gegenübertragung als „unselbständig und passiv“ erleben. Wichtig ist dann, sich bewusst zu machen, woher diese Einschätzung und diese Gefühle kommen – quasi das Fremde in sich selbst zu verstehen. Anschließend kann gemeinsam mit dem Patienten besprochen werden, welches Vorgehen für ihn am besten passt und hilfreich ist.

Gelingt es, eine tragfähige therapeutische Beziehung aufzubauen, können kulturspezifische Aspekte in den Hintergrund treten. Die Therapie ist dann für die Patient:innen zufriedenstellender und das Risiko für Therapieabbrüche geringer. Darüber hinaus können Patient:innen bei einer guten, vertrauensvollen Therapiebeziehung eher über persönliche Themen und Probleme oder über Konflikte in der Familie sprechen.

Flucht, Migration und individueller Hintergrund des Klienten

Zu Beginn einer Psychotherapie sollte eine sorgfältige, kultursensible Anamnese und Diagnostik durchgeführt werden, bei der der kulturelle, soziale, ethnische und religiöse Hintergrund der Patient:innen berücksichtigt wird. Hier sollte auch eingeschätzt werden, welche Rolle der Migrations- oder Fluchthintergrund bei der psychischen Erkrankung spielt.

Dabei sollte immer transparent vorgegangen werden und den Patient:innen genau erklärt werden, welche Maßnahmen durchgeführt werden und warum. Zugleich können sie ermutigt werden, Fragen zu stellen, wenn sie etwas nicht verstehen. Indirekte, zirkuläre Fragetechniken können bei der Diagnostik hilfreich sein. Eine solche Frage wäre zum Beispiel: „Wie würden andere, zum Beispiel Ihre Eltern oder Ihr Partner, die Entstehung Ihrer Beschwerden erklären?“

Im Anhang des DSM-VI-TR findet sich ein kultursensibler Leitfaden für Anamnese und Therapie, der bei der Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen nützlich sein kann. Auch Fragebögen und Diagnose-Instrumente, die bereits für andere Sprachen und Kulturen validiert sind, können hilfreich sein.

Folgende Aspekte sollten bei Anamnese und Diagnostik erfasst werden:

  • Aus welcher Region und welchem Land kommt die Patientin oder der Patient? Wie ist die ethnische Zugehörigkeit? Stammt sie oder er aus einer ländlichen oder städtischen Region?
  • Was waren die wichtigsten Stationen der Migration? Wie lange ist der Betroffene schon in Deutschland und wie ist der aktuelle Aufenthaltsstatus?
  • Welche Norm- und Wertvorstellungen hat der Betroffene? Sind sie traditionell oder weniger traditionell geprägt?
  • Wie ist die religiöse Orientierung und wie religiös ist sie oder er?
  • Welche Bildung und welchen beruflichen Hintergrund hat der Betroffene: Welche Schule und welche Ausbildung(en)? Welchen Beruf übt er oder sie zurzeit aus? Wie ist die Zufriedenheit mit der momentanen Arbeitssituation?
  • Welche typischen Beziehungsmuster und Rollenvorstellungen gibt es in der Familie? Welche Stellung hat der Betroffene in der Familie?
  • Was waren die Gründe für die Migration? Welche Erwartungen und Ziele hat der Betroffene an die Migration? Sind sie erfüllt oder eher enttäuscht worden?
  • Wie verlief die Flucht? Welche Belastungen sind dabei aufgetreten?
  • Wie ist die aktuelle Lebenssituation und welche Schwierigkeiten gibt es dabei, zum Beispiel unsicherer Aufenthaltsstatus, schwierige Wohn- oder Arbeitssituation? Gab es einen Statusverlust durch die Migration? Wurden Familienmitglieder zurückgelassen oder während der Flucht getrennt und welche psychischen Belastungen ergeben sich daraus?
  • Wie vertraut ist die Patientin oder der Patient mit der Kultur des Aufnahmelandes? Wie gut beherrscht sie oder er die Sprache?
  • Welche Zukunftspläne hat der Betroffene? Wie realistisch sind sie?
  • Krankheitsgeschichte: Seit wann besteht die psychische Erkrankung beziehungsweise bestehen die psychischen Probleme? Wie sind sie entstanden, wie war der Verlauf? Welche traumatischen Ereignisse und unbewältigten psychischen Konflikte gab oder gibt es?

Kulturelle, soziale, ethnische und religiöse Aspekte in der Therapie

Auch in der therapeutischen Arbeit sollten kulturelle, soziale, ethnische und religiöse Aspekte berücksichtigt werden. Zu Beginn sollten die Erwartungen der Patient:innen geklärt und Ziele für die Therapie verständlich besprochen und gemeinsam festgelegt werden. Dabei sollten auch die Vorstellungen der Patient:innen zur Entstehung und Behandlung ihrer psychischen Erkrankung akzeptiert und, soweit möglich, in der Therapie berücksichtigt werden. Weiterhin sollte gemeinsam abgestimmt werden, ob eine Einzeltherapie durchgeführt werden soll oder ob der oder die Partner:in, Familienmitglieder oder andere wichtige Bezugspersonen in die Therapie einbezogen werden sollen.

Therapeut:innen sollten sich bewusst sein, dass therapeutische Maßnahmen oft nicht nach einer strengen Struktur durchgeführt werden können. Stattdessen sollten sie eine breite Palette von Maßnahmen verwenden und diese flexibel einsetzen.

Alle geplanten Schritte sollten den Patient:innen genau erläutert werden, etwa warum sie durchgeführt werden und wie dabei vorgegangen werden soll. Manche Maßnahmen müssen dabei möglicherweise an den kulturellen Hintergrund der Patient:innen angepasst werden. Zum Beispiel können sie wegen religiöser Vorschriften hinsichtlich Essen oder Kleidung und auch sozialer Verhaltensregeln, zum Beispiel Respekt gegenüber älteren Familienmitgliedern, schwierig sein und nicht oder nur in abgeänderter Form durchgeführt werden.

Niederschwellige Maßnahmen zur psychischen Stabilisierung

Um psychisch belastete Geflüchtete in der Anfangsphase im Aufnahmeland zu unterstützen, können niederschwellige Maßnahmen, die psychisch entlastend und stabilisierend wirken, durchgeführt werden. Sie können zu Beginn einer Psychotherapie oder auch im Rahmen von unterstützenden psychosozialen Gesprächen eingesetzt werden.

Dazu gehört zum einen die Psychoedukation, also Informationen über die Erkrankung, ihre Entstehung, Behandlungsansätze und hilfreiche Maßnahmen. Zur psychischen Stabilisierung können Entspannungstechniken, Achtsamkeitsübungen oder Atemübungen eingeübt und durchgeführt werden. Wichtig ist auch eine geregelte Tagesstruktur und eine Aktivierung der Betroffenen, etwa durch regelmäßigen Sport, handwerkliche oder soziale Aktivitäten.

Weiterhin können Übungen zur Regulierung von Gefühlen und Maßnahmen zur Verbesserung der Selbstfürsorge und Selbstwirksamkeit und zur Stärkung von Ressourcen eingesetzt werden. Bei manchen Betroffenen kann es wichtig sein, Konfliktbewältigungsstrategien zu erarbeiten und einzuüben. Für eine kurzfristige psychische Stabilisierung kann es manchmal auch sinnvoll sein, Psychopharmaka zu verordnen.

Ressourcen von Migrant:innen, die gefördert werden können, sind zum Beispiel:

  • Optimismus, Mut, Anpassungsfähigkeit
  • starker Familienzusammenhalt und familiäre Unterstützung
  • Einbindung in ethnische Communities oder Selbstorganisationen von Migrant:innen
  • Das Sprechen von zwei oder mehr Sprachen und gute Kenntnisse mehrerer Kulturen (Kultur des Herkunftslandes, Kultur des Aufnahmelandes, Migrant:innenkultur)

Um die Patient:innen zu aktivieren und ihre Selbstwirksamkeit zu stärken, ist auch praktische Unterstützung hilfreich. So sollten sie Informationen und Orientierungshilfen für ihr neues Umfeld erhalten und angeregt werden, an Freizeit-, Sport- oder Kulturangeboten im Aufnahmeland teilzunehmen. Ebenso können sie motiviert werden, neue Kontakte zu knüpfen, zu Landsleuten und anderen Migrant:innen ebenso wie zu Einheimischen.

Vorgehen bei Traumatisierung

Bei Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben und an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden, ist zunächst eine Stabilisierung und die Aktivierung von Ressourcen wichtig. Hilfreich ist oft, zu vermitteln, dass die Symptome eine normale Reaktion auf abnormale Ereignisse sind. Eine Trauma-Behandlung mit Konfrontation sollte erst durchgeführt werden, wenn die Lebensbedingungen der Patient:innen weitgehend stabil sind. Auch bei der Trauma-Konfrontation sollten die kulturellen Hintergründe berücksichtigt und gut über die geplanten Maßnahmen und ihren Sinn aufgeklärt werden.

Multimodales Behandlungskonzept sinnvoll

Neben Psychotherapie auch sozialarbeiterische Unterstützung, eine angemessene medizinische Versorgung und aufenthaltsrechtliche Beratung wichtig

Bei der Behandlung von Migrant:innen mit psychischen Erkrankungen ist ein multimodales Behandlungskonzept sinnvoll. Es sollte neben Psychotherapie auch sozialarbeiterische Unterstützung, eine angemessene medizinische Versorgung und aufenthaltsrechtliche Beratung umfassen. Wichtig bei der psychotherapeutischen Arbeit ist eine Zusammenarbeit in interkulturellen Teams, in denen auch Therapeut:innen arbeiten, die den Kulturkreis der Patient:innen gut kennen. Regelmäßige Teambesprechungen oder Supervisionen können dazu beitragen, dass sich die Mitarbeitenden regelmäßig über typische Problemstellungen in der Arbeit mit Migrant:innen austauschen können. Dabei können sie zugleich ihr interkulturelles Wissen und ihre interkulturellen Kompetenzen erweitern.

Die meisten therapeutischen Techniken, die in den Leitlinien zu den verschiedenen Krankheitsbildern beschrieben werden, können grundsätzlich auch bei der therapeutischen Arbeit mit Migrant:innen eingesetzt werden.

In der Therapie kann eine bewusste Haltung des Nicht-Wissens hilfreich sein: Therapeut:innen sollten sich bewusst machen, dass sie vieles aus der Kultur ihrer Patient:innen nicht kennen. Dabei sollten sie auch berücksichtigen, dass die Vorstellungen zur Entstehung und Behandlung psychischer Erkrankungen weltweit sehr unterschiedlich sein können.

Aus diesem Grund ist es sinnvoll, immer wieder nachzufragen und sich die Dinge erläutern zu lassen. Therapeut:innen sollten die Vorstellungen ihrer Patient:innen über Ursachen, Verlauf und Heilung ihrer psychischen Erkrankung erfragen. Auch wenn sie etwas nicht verstehen oder unsicher sind, was das Gesagte bedeutet, sollten sie genau nachfragen, etwa mit einer Frage wie „Was verstehen Sie darunter?“. Das kann gleichzeitig dazu beitragen, dass die Patient:innen sich ernst genommen und verstanden fühlen.

Zur Haltung des Nicht-Wissens gehört auch, dass Therapeut:innen viel und anschaulich erklären, wie die Dinge in Deutschland ablaufen: Etwa was Psychotherapie ist, welche einzelnen Maßnahmen durchgeführt werden sollen und warum sie hilfreich sein können. Dabei sollten auch die Rahmenbedingungen einer Psychotherapie erläutert werden, zum Beispiel was die Schweigepflicht bedeutet oder welche Merkmale eine therapeutische Beziehung aufweist. Weiterhin sollten Therapeut:innen ihre eigene psychotherapeutische Sichtweise zur Entstehung der psychischen Erkrankung und zu den geplanten Behandlungsmaßnahmen erklären. Die Erläuterungen sollten immer an die Vorkenntnisse und Sprachkenntnisse der Patient:innen angepasst sein.

Auf der anderen Seite ist es hilfreich, sich nach und nach Wissen über andere Kulturen, zum Beispiel über typische Normen und Wertvorstellungen, Traditionen oder Familienstrukturen anzueignen. Dazu gehört auch, kulturspezifische Umgangsformen zu kennen und sie im Umgang mit den Patient:innen zu beachten. So wird in vielen Kulturen im persönlichen Kontakt viel Wert auf Verständnis, Geduld, Höflichkeit und Respekt gelegt.