Flüchtende häufig psychisch belastet

Gute psychische Gesundheit wichtiger Faktor für eine gelungene Integration

Akono, Mitte 20, ist nach einer langen und gefährlichen Flucht aus Nigeria nach Deutschland gekommen. Er lebt zurzeit in einer Flüchtlingseinrichtung in einer Kleinstadt. Sein Bruder, mit dem er gemeinsam aufgebrochen war, ist auf der Flucht ums Leben gekommen. Freunde sind auf der Flucht zurückgeblieben. In Deutschland hat Akono kaum Kontakte zu anderen Menschen. Die Mitbewohner:innen in seiner Flüchtlingseinrichtung kommen aus anderen Kulturen und sprechen andere Sprachen. Ab und zu spricht er mit einer Sozialarbeiterin, aber sie hat wenig Zeit für ihn. Weil er keine Arbeit hat und bis jetzt keinen Deutschkurs besuchen konnte, hat er kaum Möglichkeiten, neue Kontakte zu knüpfen. Den Stand seines Asylverfahrens, das seit über einem Jahr läuft, kennt er nicht genau.

Ab und zu telefoniert er mit Familienmitgliedern in der Heimat. Aber diese setzen ihn immer mehr unter Druck, fragen nach seiner Arbeit und erwarten, dass er sie finanziell unterstützt. Bei Spaziergängen in der Kleinstadt hatte er öfter das Gefühl, dass die Leute ihn komisch anschauen würden und ein paar Mal hat er auch Feindseligkeiten erlebt. Deshalb verlässt er seine Unterkunft nur noch selten. Mit der Zeit zieht Akono sich immer mehr zurück. Er sieht seine Situation als aussichtslos an und entwickelt zunehmend Symptome einer Depression.*

Jeder Vierte in Deutschland hat einen Migrationshintergrund

Etwa ein Viertel der Menschen in Deutschland hat einen Migrationshintergrund (Stand 2018). Rund ein Drittel davon ist in Deutschland geboren, zwei Drittel sind im Lauf des Lebens eingewandert. Einige von den Migrant:innen haben die deutsche, andere eine ausländische Staatsbürgerschaft.

Migrant:innen kommen aus Ländern mit unterschiedlichen Kulturen und Bildungsgraden, sie hatten ein verschiedenes soziales und finanzielles Umfeld. Auch ihre Integration im Aufnahmeland und ihr Aufenthaltsstatus unterscheiden sich. Unter ihnen sind Menschen, die schon länger in Deutschland leben, neu angekommene Geflüchtete, Migrant:innen, die die deutsche Staatsbürgerschaft haben, anerkannte Asylberechtigte und auch Asylsuchende, bei denen der Aufenthalt in Deutschland noch ungewiss ist.

Das Risiko für psychische Erkrankungen ist bei Menschen mit Migrationshintergrund sehr hoch: Laut Bundespsychotherapeutenkammer haben zwei Drittel der Geflüchteten eine psychische Erkrankung. Um zu vermeiden, dass die Symptome chronisch werden, ist es wichtig, psychische Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Eine gute psychische Gesundheit ist zugleich ein wichtiger Faktor für eine gelungene Integration in einem neuen Land.

Eine angemessene psychosoziale Versorgung für Menschen mit Migrationshintergrund wird deshalb immer wichtiger. Dazu gehört, dass Psychotherapeut:innen, Ärzt:innen und andere Mitarbeitende im Gesundheitssystem über interkulturelle Kompetenzen verfügen. Eine gute sprachliche Verständigung im Gesundheitsbereich durch professionelle Dolmetscher:innen oder Sprach- und Kulturmittler:innen spielt dabei eine wichtige Rolle.

Welche psychischen Belastungen treten besonders oft auf?

Viele Migrant:innen haben sowohl in ihrem Herkunftsland, als auch auf der Flucht und an ihrem neuen Aufenthaltsort belastende Situationen erlebt und Traumata erlitten. In ihrer Heimat waren sie häufig Krieg, Gewaltsituationen, körperlichen Misshandlungen, Verfolgung und Folter ausgesetzt. Dabei haben viele das Gefühl erlebt, ausgeliefert zu sein und sich selbst oder ihre Angehörigen nicht schützen zu können. Auf der Flucht haben viele Betroffene bedrohliche Situationen erlebt, in denen sie das Gefühl hatten, ständig auf der Hut sein zu müssen und die Situation nicht selbst beeinflussen zu können.

Aber auch die Bedingungen im Aufnahmeland können psychisch belastend sein: Durch ein lange dauerndes Asylverfahren oder einen zeitlich befristeten Aufenthaltsstatus leben viele Geflüchtete in einem ständigen Gefühl der Unsicherheit. Die Enge und fehlende Privatsphäre in Flüchtlingsunterkünften können belastend sein und zu einem Gefühl der Perspektivlosigkeit beitragen.

Sind Angehörige in der Heimat oder auf der Flucht zurückgeblieben, wo sie weiterhin Gewalt oder schwierigen Bedingungen ausgesetzt sind, kann das psychisch sehr belastend sein. Viele Migrant:innen machen auch die Erfahrung, aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert zu werden und erleben Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. Dies kommt zum Teil auch zwischen verschiedenen Gruppen von Migrant:innen vor. Den Betroffenen wird bei solchen Erfahrungen immer wieder das Gefühl vermittelt, nicht dazuzugehören und minderwertig zu sein, was sich stark auf das Selbstwertgefühl auswirken kann. Dazu können weitere Belastungen wie Beziehungs- oder gesundheitliche Probleme kommen, die nichts mit der Migration zu tun haben.

Viele Migrant:innen und Geflüchtete leiden deshalb unter psychischen Problemen und Erkrankungen. Eine aktuelle Studie in der Zeitschrift „The Lancet“ kommt zu dem Ergebnis, dass 31 Prozent der Migrant:innen, die bewaffnete Konflikte erlebt haben, unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), 25 Prozent unter einer Depression und 14 Prozent unter einer Generalisierten Angststörung leiden.

Weitere häufige psychische Erkrankungen bei Geflüchteten sind psychosomatische Erkrankungen, chronische Schmerzen, Panikstörungen und Schlafstörungen. Auch Missbrauch von Alkohol, Drogen oder Medikamenten und dissoziative Störungen kommen häufig vor.

Kulturelle Aspekte prägen Therapie mit Flüchtenden und Migranten

Durch unterschiedliche Erwartungen, Wertorientierungen und Rollenvorstellungen von Patient:innen und Therapeut:innen kann es in einer Psychotherapie zu Unsicherheit und Missverständnissen kommen. Daher kann es schwierig sein, eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung aufzubauen und es kann leicht zu Konflikten und vorzeitigen Therapieabbrüchen kommen.

So beruht das Konzept der Psychotherapie auf einer westlichen, individualistischen Sichtweise. Ziel der Therapie ist, die Ressourcen der Patient:innen zu aktivieren und ihre Selbstverantwortung und Autonomie zu stärken. Dabei wird von den Patient:innen eine aktive Mitarbeit und eine Auseinandersetzung mit innerpsychischen Prozessen erwartet. Auch die gängigen Diagnosesysteme wie die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten (ICD) oder das Diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen (DSM) und diagnostische Tests sind von einer westlichen Sichtweise geprägt und für Menschen aus anderen Kulturen möglicherweise weniger geeignet.

Viele Migrant:innen kennen Psychotherapie nicht, weil es diese in ihren Herkunftsländern gar nicht gibt. Oft haben sie andere Bewältigungsstrategien für psychische Probleme: Viele suchen Unterstützung bei Ärzt:innen, in ihrer religiösen Gemeinde, etwa in einer Kirche oder Moschee oder bei traditionellen Heiler:innen. Andere suchen Halt in traditionellen Bräuchen oder in der Familie. Zudem haben sie oft andere Erklärungsmodelle für psychische Probleme und Krankheiten. So werden Krankheiten in vielen Ländern mit religiösen, magischen oder übernatürlichen Vorstellungen erklärt, zum Beispiel dass etwas von außen in den Körper eindringt, dass Geister eine Rolle spielen und dass die Krankheit durch bestimmte Rituale oder Symbole ausgetrieben oder geheilt werden kann.

Weiterhin haben Migrant:innen und Geflüchtete oft andere Vorstellungen von einer Psychotherapie und andere Erwartungen an eine Therapie. So sehen sie Psychotherapeut:innen als Autoritätspersonen an und erwarten von ihnen eher aktive, lebenspraktische Hilfe, zum Beispiel dass man ihnen genau erklärt, warum sie diese Erkrankung haben und was sie tun sollen, damit es ihnen besser geht. Es kann auch sein, dass sie über Beschwerden oder Probleme nicht von sich aus berichten, weil sie erwarten, dass die Therapeutin oder der Therapeut aktiv danach fragt.

Menschen aus anderen Kulturen beschreiben ihre psychischen Probleme oft anders und verwenden Beschreibungen, die für deutsche Behandler:innen unklar oder missverständlich sind. So werden in der Türkei oft Redewendungen, die sich auf Organe beziehen, aber einen psychischen Zustand ausdrücken, verwendet, zum Beispiel: „Meine Gallenblase ist geplatzt“, um großes Erschrecken und Angst auszudrücken.

Zudem ist es in vielen Kulturen unüblich, mit jemandem außerhalb der Familie über persönliche Dinge, psychische oder zwischenmenschliche Probleme, zum Beispiel Streitigkeiten in der Familie, zu sprechen. Auch gilt es in einigen Kulturen, zum Beispiel afrikanischen oder asiatischen, als unhöflich, andere mit den eigenen Problemen zu behelligen oder eigene Anliegen direkt anzusprechen. In traditionell und kollektivistisch geprägten Kulturen werden Dinge, vor allem problematische Themen, häufig nicht direkt angesprochen, sondern eher indirekt, etwa durch Anspielungen, Mimik oder Körperhaltung ausgedrückt. Für Therapeut:innen kann es daher schwierig sein, die Problematik und das Anliegen ihrer Patient:innen zu verstehen und es kann leicht zu Missverständnissen kommen.

Für Menschen in kollektivistisch geprägten Kulturen ist es außerdem oft wichtiger, auf die Bedürfnisse anderer Menschen, etwa auf die ihrer Familie oder die der Gemeinschaft Rücksicht zu nehmen als ihre eigenen Bedürfnisse zu verwirklichen. Gleichzeitig gibt es in solchen Kulturen oft feste Hierarchien innerhalb der Familie oder der Gesellschaft, bei denen die Position einer Person zum Beispiel von ihrem Alter oder Geschlecht abhängt. In einer Psychotherapie kann es deshalb schwierig sein, Änderungen anzustoßen, wenn nicht auf die Interessen und Bedürfnisse naher Bezugspersonen und auf bestehende Hierarchien Rücksicht genommen wird.

Auf der anderen Seite lassen sich diese Hürden durch ein kultursensibles Vorgehen in der Therapie häufig gut bewältigen.