Einsamkeit kann jeden treffen

WHO bezeichnet Einsamkeit als Pandemie des 21. Jahrhunderts

28.11.2023 Von Angelika Völkel

  1. Teaserbild
  2. Einsamkeit ist schambehaftet, macht krank und verändert den Charakter
  3. Junge und alte Menschen genauso von Einsamkeit betroffen wie Stadt- und Landbevölkerung
  4. Aktuelle Trends zum Umgang mit Einsamkeit
  5. Wissenschaftlich gestützte Strategien gegen Einsamkeit
  6. Muss Einsamkeit immer schlecht sein?

Helmut betrachtete diesen Job als die Chance seines Lebens. Der 35-Jährige wurde als Manager eines Krankenhauses eingestellt. Seine Aufgabe bestand darin, das Haus so umzustrukturieren, dass es deutlich rentabler werden konnte. Sein Einkommen setzte sich aus zwei Säulen zusammen: Seinem Gehalt und Boni, die erfolgsabhängig ausbezahlt wurden.

Weil es sofort sehr gut lief, kaufte er das von seiner Frau langersehnte Haus – auf Kredit. Der Hund, den die Kinder sich wünschten, kam auch bald dazu. Doch schon im zweiten Jahr lief es im Krankenhaus nicht wie geplant. Seine Sparmaßnahmen stießen auf Widerstand, die Belegschaft stand immer weniger hinter ihm. Die Kollegen in den anderen Häusern erwirtschafteten sehr viel höhere Renditen als er, was ihn zusätzlich unter Druck setzte. Zuhause wagte er sich seiner Frau kaum anzuvertrauen, er zog sich mehr und mehr zurück. Irgendwann wurde er zur Geschäftsleitung gerufen, er sei nicht mehr tragbar.

Wenige Jahre nachdem er die Chance seines Lebens ergriffen hatte, stand Helmut vor einem Scherbenhaufen. Er hatte seine Möglichkeiten im Krankenhaus überschätzt, er hatte sich zu wenig Unterstützung bei seiner Frau gesucht und seine Familie nur noch als Aufgabe betrachtet, nicht als Ort von Geborgenheit und Sicherheit. Seine Frau ließ sich schließlich scheiden und das Haus wurde verkauft.

Sein Ehrgeiz, Perfektionismus und Alleingang hatten ihn in die Einsamkeit getrieben. Scham, viel zu wenig soziale Einbindung und Schulden hemmen ihn, ein neues Leben zu beginnen. *

Einsamkeit ist schambehaftet, macht krank und verändert den Charakter

Einsamkeit betrifft alle Altersgruppen und zieht sich durch alle sozialen Gruppen. Dabei sind die Gründe für Einsamkeit so vielfältig wie die Lebenskonzepte der Menschen. Die meisten Menschen kennen also Einsamkeit, doch wenige trauen sich, darüber zu sprechen, weil sie als Makel angesehen wird. Denn in unserer Gesellschaft zählt auch ein gutes Netzwerk zu den Statussymbolen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Vereinsamung in den westlichen Gesellschaften längst zu einer Pandemie des 21. Jahrhunderts erklärt. Sie hat deshalb eine Kommission, die untersucht, wie Sozialkontakte als Beitrag zu guter Gesundheit gefördert werden können, eingesetzt. Laut WHO ist soziale Isolation nicht nur ein Phänomen unter älteren Menschen in reichen Ländern, sondern in vielen Ländern litten Menschen aller Altersstufen darunter, wenig Kontakt mit Freunden und Verwandten zu haben. Unter Heranwachsenden sind nach Studien weltweit 5 bis 15 Prozent betroffen, unter den älteren Menschen etwa 25 Prozent.

Wer länger darunter leidet, zieht sich mehr und mehr zurück und verändert sogar seinen Charakter. Dauerhaft einsame Menschen richten eher ihren Blick auf negative als auf positive Dinge. Einsamkeit tut weh und stellt ein weitaus höheres Risiko für psychische und körperliche Gesundheit dar als Rauchen oder Bewegungsmangel. Menschen ohne starke soziale Kontakte haben ein höheres Risiko für Schlaganfälle, Angststörungen, Demenz, Depressionen oder Suizid.

Wenn Sie einsam sind, nehmen Sie unbedingt Hilfe in Anspruch. Eine Erste Hilfe kann die Telefonseelsorge sein. Ein Mindestmaß an sozialer Zugehörigkeit ist überlebenswichtig. Scheuen Sie sich deshalb nicht, auch professionelle Unterstützung wie psychologische Beratung oder Psychotherapie in Anspruch zu nehmen, um wieder sicherer zu werden und auf Menschen zugehen zu können.

Junge und alte Menschen genauso von Einsamkeit betroffen wie Stadt- und Landbevölkerung

Jede dritte Ehe wird inzwischen geschieden, Familien brechen auseinander, und viele Menschen wagen es gar nicht mehr, sich dauerhaft an einen Menschen zu binden. Die Marktforschungsgesellschaft GfK fand Anfang des Jahres 2023 heraus, dass in Berlin fast jeder zweite Haushalt ein Singlehaushalt ist. In München, Köln, Würzburg und Passau ist der Anteil der Einpersonenhaushalte noch höher.

Einsamkeit ist nicht nur ein Phänomen der Großstadt, aber dort sind die Menschen besonders gefährdet, weil Begegnungen und Beziehungen unverbindlicher sind, weil es mehr Freizeitangebote und Ablenkungsmöglichkeiten gibt, weil Wege meistens weiter sind und noch weniger Zeit bleibt, aufeinander zu achten und sich umeinander zu kümmern.

Anders als vielleicht vermutet, sind Menschen zwischen 18 und 35 Jahren besonders betroffen. Während der Corona-Pandemie litt diese Altersgruppe am stärksten unter Einsamkeit. Auch soziale Medien konnten das Wegfallen der sozialen Kontakte nicht kompensieren.

Die zweite Risikogruppe bilden Menschen im höheren Alter. Viele haben bereits den Partner oder Freunde verloren und sie sind zu gebrechlich, um sich noch einmal auf den Weg zu machen und Anschluss zu suchen.

Wieder neu anzufangen, schaffen übrigens auch alleinstehende Männer im mittleren Alter häufig nicht mehr. Gerade wenn sie vorher beruflich sehr aktiv waren, fehlt ihnen die Erfahrung, Freundschaften zu knüpfen und zu pflegen und vor allem das Selbstverständnis, ihre Bedürfnisse offen anzusprechen.

Aktuelle Trends zum Umgang mit Einsamkeit

Wie viele Menschen von Einsamkeit betroffen sind, zeigt ein Trend wie die aktuellen Kuschelpartys, die den Teilnehmenden die Möglichkeit bieten, sich gegenseitig zärtlich zu berühren. Dabei geht es nicht um sexuelle Befriedigung, sondern darum, die Sehnsucht zu stillen, endlich einmal wieder umarmt oder berührt zu werden.

Ein anderer Trend ist, einen professionellen Zuhörer zu buchen. Dass sich Angehörige oder Freunde wirklich einmal Zeit nehmen, dass sie in Ruhe zuhören, ohne selbst von beruflichem oder Freizeitstress gejagt zu werden, das ist heute nicht mehr selbstverständlich.

Wissenschaftlich gestützte Strategien gegen Einsamkeit

Bei Einsamkeit sind regelmäßige soziale Kontakte das beste Heilmittel und auch die beste Prophylaxe. Dabei geht es nicht unbedingt nur darum, mit der Liebe des Lebens zusammenzuleben oder sich mit den besten Freunden innigst verbunden zu fühlen.

Wer in Gruppen eingebunden ist, lebt gesünder, kann den Widrigkeiten des Lebens sicherer und stabiler begegnen. Eine wichtige Voraussetzung ist jedoch, dass man sich mit den Themen der Gruppe identifiziert, eine bloße Mitgliedschaft ist zu wenig. Die Mitgliedschaft in einer Umweltschutzgruppe wirkt nur stabilisierend, wenn einem das Thema am Herzen liegt, eine reine Kopfentscheidung bewirkt auf Dauer kein Zugehörigkeitsgefühl.

Dass uns gemeinschaftliches Handeln wohltut, belegt die Forschung immer wieder. Im Rahmen einer Studie wurde beispielsweise die Hirnaktivität während eines virtuellen Ballspiels aufgezeichnet. Bei denjenigen, die öfter den Ball bekamen, also von den anderen stark einbezogen wurden, wurde das Belohnungssystem im Hirn stärker aktiviert.
Andere Experimente, bei denen Menschen gemeinsam musizierten oder tanzten, zeigten, dass jemand, der sich auf andere einschwingen kann, mehr Vertrauen in seine Mitmenschen hat und eher bereit ist zu kooperieren.

Doch soziale Kontakte wollen gepflegt werden. Ein Plausch mit dem Nachbarn am Gartenzaun ist wichtiger als man denkt und auch das Mittagessen mit den Kolleg:innen. Überhaupt sollte man regelmäßig etwas mit anderen gemeinsam unternehmen. Die Interessen, die einem Freude bereiten, machen in der Gruppe noch mehr Spaß.

Muss Einsamkeit immer schlecht sein?

Der Philosoph Raphael Rauh versteht Einsamkeit zunächst als ein Gefühl, das von Menschen zu allen Zeiten erlebt wurde und eine wichtige Rolle spielte bei dem Versuch, sich selbst zu definieren in Religion, in Kunst und Philosophie. Am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Freiburg hat Rauh sich intensiv mit dem Phänomen Einsamkeit befasst. Die häufig vorgebrachte Behauptung, der Mensch sei sozusagen ein Gesellschaftstier und Einsamkeit daher grundsätzlich schlecht, greife seines Erachtens zu kurz.

Philosophie und Kunst kennen seit Langem auch positive Potenziale der Einsamkeit, so Rauh. Psychologisch betrachtet, befreit uns die Selbsterfahrung von Einsamkeit von einem Phänomen namens Intrusive Consciousness. Der Zustand, sich selbst in Gesellschaft von außen zu betrachten, wird vorübergehend aufgehoben. Wer beispielsweise allein eine Ausstellung oder ein Theaterstück besucht, kann manchmal viel tiefer eintauchen.

Für Raphael Rauh liegt jedoch auf der Hand, dass moderne Gesellschaften spezifische neue Formen der Einsamkeit mit sich bringen. Beschleunigung und Effizienzsteigerung führten dazu, dass Inseln der Muße, der Begegnung, der Zwischenmenschlichkeit zu kurz kommen. Es sei ein typisches Phänomen unserer Gegenwart, dass Menschen keine Zeit füreinander hätten und eingespannt seien in Leistungsimperative, die Menschen von einer vulnerablen, weicheren Seite in sich entfremdeten.


*Fallbeispiel nach „7 Wege aus der Einsamkeit und zu einem neuen Miteinander“ von Walter Möbius und Christian Försch, „Der Krankenhausmanager“, Kapitel: 1. Weg, Raus aus der Stressfalle