Achtsamkeit und Psyche

Unbewusst im Autopilot agierende Menschen bemerken dysfunktionale Denkmuster selten

04.02.2022 Von Benedict Baumgartner

Um Achtsamkeit oder auch „Mindfulness“ ist in den letzten Jahren regelrecht ein Hype entstanden. Der Begriff wird mit mentaler Gesundheit in Verbindung gebracht und hält wachsenden Einzug in Kliniken und psychologischen Praxen. In diesem Artikel stellen wir Ihnen vor, was Achtsamkeit ist und welche Rolle sie in der Psychotherapie spielt.

Um Achtsamkeit besser verstehen zu können, hilft es, sich folgende Fragen zu stellen: Wie habe ich mich gefühlt, als ich gestern meine Zähne geputzt habe? Wann habe ich das letzte Mal den Wind auf der Haut gespürt? Woran habe ich gedacht als ich zur Arbeit gegangen bin oder Einkaufen war?

Vielen Menschen fällt es schwer, eine Antwort auf diese Fragen zu finden. Das liegt daran, dass wir einen großen Teil unseres Alltags im Autopiloten verbringen. Kochen, Essen, Putzen, Auto oder Fahrrad fahren sind Dinge, die wir häufig erledigen, ohne ihnen wirklich Aufmerksamkeit zu schenken. Der Vorteil ist, dass wir dadurch keine zusätzliche Energie für diese Aufgaben verlieren. Allerdings verpassen wir so die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu sammeln und können nicht erkennen, wenn dysfunktionale Muster in uns gerade aktiv sind.

Definition von Achtsamkeit

John Kabat-Zinn (1990), Pionier der achtsamkeitsbasierten Psychotherapie, definiert Achtsamkeit als eine Aufmerksamkeitslenkung, die absichtsvoll, nicht-wertend und auf das Hier und Jetzt gerichtet ist. In anderen Worten, soll versucht werden mit den Gedanken, Gefühlen und der Konzentration im gegenwärtigen Moment zu bleiben. Also wenn ich gehe, dann gehe ich und wenn ich sitze, dann sitze ich. Alles, was ich in diesem Moment erlebe, wird nicht bewertet, sondern so angenommen, wie es ist. Das gilt für Gutes, sowie für Schlechtes.

Achtsamkeit wird als eine Fertigkeit verstanden, welche erlernt werden kann. Meditation ist eine Übung oder Technik, um Achtsamkeit zu trainieren. Bei der Meditation wird die Aufmerksamkeit bewusst und konzentriert auf ein bestimmtes Objekt gelenkt. Wenn die Gedanken abschweifen, geht es nicht darum, dies zu verhindern, sondern es wahrzunehmen und den Fokus wiederzufinden.

In der Achtsamkeitspraxis werden unterschiedliche Formen von Meditation eingesetzt, die dazu dienen, die Konzentration zu schulen (Samthameditation) oder sich selbst zu erkunden (Vipassanameditation).

Kurze Geschichte der Achtsamkeit

Das Konzept der Achtsamkeit entwickelte sich aus buddhistischen Traditionen. Hier ist Achtsamkeit (auch genannt die „rechte Achtsamkeit“) nur ein Aspekt des achtfachen Pfades. In den buddhistischen Lehren wird Achtsamkeit nicht einzeln betrachtet. Achtsamkeit gehört zu einem Zusammenspiel der anderen sieben Tugenden, welche gemeinsam mit den vier edlen Wahrheiten ein zentrales Element des Buddhismus bilden. Sie kann als Mittel verstanden werden, um Leid zu überwinden und Heilsames zu fördern. Um Achtsamkeit zu kultivieren wurden Meditationstechniken entwickelt. Die rechte Achtsamkeit ist nicht „nur“ eine Aufmerksamkeitslenkung, sondern bezieht sich neben dem Körperlichen und Empfinden auch auf geistige Aspekte. In der Psychotherapie ist Achtsamkeit aus ihrem religiösen Kontext herausgelöst und entfernt sich so von ihrer ursprünglichen Definition.

„Die 38-jährige Frau O. hat in der eigenen Biografie wenig emotionale Unterstützung erfahren. Sie musste frühzeitig lernen, dass auf erwachsene Personen kein Verlass ist. Auch in ihrer Partnerschaft hat sie oft das Gefühl, alles alleine machen zu müssen. Sie kennt depressive Phasen, in denen sie sich zurückzieht und versucht, wieder Kraft zu schöpfen.

In der Einzeltherapie lernt sie die eigene innere Vielstimmigkeit kennen. Sie identifiziert eine starke innere Kritikerin und eine Perfektionistin, beide davon überzeugt, dass man alles alleine machen muss. Weiterhin bekommt sie Kontakt zu sehr traurigen kindlichen Anteilen, die sich verlassen und hilflos fühlen.

Es wird deutlich, dass selbstfürsorgliche und selbstbejahende Stimmen nur sehr leise sind und wenig Raum bekommen. Durch kürzere Achtsamkeitsübungen im therapeutischen Setting lernt Frau O. Kontakt zu einer ruhigeren, inneren Mitte herzustellen.

Durch die Teilnahme an einem MBCT-Kurs lässt sich der Zugang zum eigenen Körper und dem Spüren von eigenen Bedürfnissen stärken. Die selbstfürsorglichen Stimmen bekommen durch die tägliche meditative Übungspraxis mehr Raum. Frau O. kann sich von ihrem Partner mehr unterstützen lassen und ihre Bedürfnisse besser artikulieren.“ *)