Persönlichkeits­störung

Ausgeprägte Persönlichkeitsmerkmale als störende Belastung

14.07.2014 Von Dr. Christine Amrhein

Jeder Mensch hat seine charakteristische Persönlichkeit: Diese zeigt sich in einer bestimmten Art, zu denken, zu fühlen, seine Umgebung wahrzunehmen und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. All diese Eigenschaften werden durch die Außenwelt und durch Erfahrungen im Lauf der Kindheit und Jugend mitgeprägt. Sie machen es möglich, auf die Anforderungen der Umwelt flexibel zu reagieren – zum Beispiel Herausforderungen im Beruf zu bewältigen und die Beziehungen zu anderen Menschen zufriedenstellend zu gestalten.

Im Gegensatz dazu spricht man von einer Störung der Persönlichkeit, wenn bestimmte Persönlichkeitseigenschaften oder Verhaltensstile sehr stark ausgeprägt und gleichzeitig starr und unflexibel sind – wenn sie also in verschiedenen Situationen immer wieder auftreten, obwohl sie teilweise unangemessen oder wenig hilfreich sind. So kann es in manchen Situationen angebracht und sogar günstig sein, sehr gewissenhaft zu sein oder anderen die Initiative zu überlassen. Wenn jemand sich aber fast immer so verhält, ist das für ihn selbst hinderlich und auch für seine Mitmenschen oft belastend. Typisch für eine Persönlichkeitsstörung ist auch, dass die Art und Weise, zu denken, zu fühlen und sich zu verhalten, deutlich von der Art der meisten anderen Menschen abweicht.

Oft ist es aber schwierig, zwischen einem sehr ausgeprägten, auffälligem Persönlichkeitsstil und einer Störung der Persönlichkeit zu unterscheiden. Fachleute gehen davon aus, dass die Übergänge zwischen beidem fließend sind. So beschreiben die Psychologen Julius Kuhl und Miguel Kazén (1997) für jede einzelne Persönlichkeitsstörung auch „Übergänge zur Normalität“ – typische Persönlichkeitsstile, die einer bestimmten Persönlichkeitsstörung ähneln, aber weniger schwer ausgeprägt sind. Diese müssen laut Kuhl und Kazén nicht unbedingt ungünstig sein, sondern können zum Teil sogar günstige Auswirkungen haben.

Das entscheidende Kriterium für eine Persönlichkeitsstörung ist, dass jemand unter seinen Persönlichkeitsmerkmalen leidet und durch sie in seiner persönlichen, sozialen oder beruflichen Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist. Außerdem ist eine Störung der Persönlichkeit oft auch für die Mitmenschen belastend – was auch für den Betroffenen selbst zu typischen zwischenmenschlichen Problemen führt.

Derzeit sind einige Persönlichkeitsstörungen bereits relativ gut erforscht – vor allem die Borderline-Persönlichkeitsstörung und (in etwas geringerem Umfang) die antisoziale und die selbstunsichere Persönlichkeitsstörung. Für sie wurden eine Reihe von Therapieansätzen entwickelt und auf ihre Wirksamkeit hin untersucht. Die übrigen Persönlichkeitsstörungen sind bisher weniger gut erforscht, und es ist weniger darüber bekannt, welche Therapieansätze hier am besten geeignet sind.

Charakteristische Bereiche einer Persönlichkeitsstörung

Typisch für eine Persönlichkeitsstörung ist, dass sie verschiedene psychologische Bereiche betrifft: Es bestehen Störungen bei den zwischenmenschlichen Beziehungen, beim Erleben von Gefühlen, bei der Wahrnehmung der Realität, bei der Kontrolle von Impulsen und bei der Wahrnehmung der eigenen Person. Diese Störungen können je nach Persönlichkeitsstörung unterschiedlich aussehen.

Am auffälligsten sind die Störungen im Interaktionsverhalten – also dem Verhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese können sich bei Freundschaften und im Familienleben, aber auch im beruflichen Bereich ungünstig auswirken.

Störungen beim emotionalen Erleben zeigen sich häufig darin, dass bestimmte Gefühle wie Ängstlichkeit oder Traurigkeit übermäßig stark auftreten. Es kann aber auch sein, dass jemand abwechselnd unterschiedliche, starke Gefühle erlebt oder seine Gefühle gegenüber anderen dramatisiert.

Störungen bei der Wahrnehmung der Realität bedeuten, dass die Betroffenen äußere Umstände oder Beziehungen verzerrt wahrnehmen – zum Beispiel fassen sie neutrale Handlungen von anderen als negativ auf oder messen bestimmten Ereignissen eine übertriebene, objektiv nicht nachvollziehbare Bedeutung zu.

Außerdem nehmen Menschen mit Persönlichkeitsstörungen oft auch sich selbst verzerrt wahr. Sie erleben sich zum Beispiel als extrem hilflos oder aber als „jemand ganz Besonderes“. Dies wirkt sich darauf aus, wie sie sich anderen gegenüber verhalten und darstellen. So kann es sein, dass sie sich als besonders hilfsbedürftig darstellen oder aber ihre eigenen Leistungen übertreiben.

Bei manchen Persönlichkeitsstörungen liegt auch eine Störung der Impulskontrolle vor. Das bedeutet, dass jemand seine eigenen Gefühle und Impulse schwer kontrollieren kann und leicht seine Selbstbeherrschung verliert. Die Betroffenen neigen dann zu Verhalten, das ihnen selbst und anderen schadet – zum Beispiel konsumieren sie exzessiv Alkohol oder Drogen, übertreten Gesetze oder verhalten sich aggressiv und gewalttätig.

Exkurs: Macht es Sinn, von „Störung“ der Persönlichkeit zu sprechen?

Einige Fachleute kritisieren die Idee, von einer „Persönlichkeitsstörung“ zu sprechen. Sie argumentieren, dass jeder Mensch eine ganz individuelle Persönlichkeit hat und es deshalb schwierig ist, Menschen mit bestimmten Merkmalen, die vielleicht für die Umwelt besonders belastend sind, als „gestört“ zu bezeichnen. Der Begriff „Persönlichkeitsstörung“ würde Menschen stigmatisieren und nahe legen, dass sie allein für ihre Störung verantwortlich seien. Dabei würden andere Faktoren, die das spezifische Verhalten ausgelöst und geprägt hätten, zu wenig berücksichtigt – zum Beispiel ein problematisches Verhalten der Eltern und anderer nahe stehender Menschen, aber auch problematische Aspekte der Gesellschaft.

Deshalb schlagen manche Psychotherapeuten wie Peter Fiedler oder Rainer Sachse vor, statt von „Persönlichkeitsstörungen“ besser von typischen Störungen des Verhaltens, des Denkens und der zwischenmenschlichen Beziehungen zu sprechen. Mit dieser Sichtweise könnten sich auch die Betroffenen besser identifizieren – denn viele würden durchaus Probleme im Kontakt mit ihren Mitmenschen bemerken. Die wenigsten seien dagegen der Ansicht, dass sie eine „gestörte Persönlichkeit“ hätten.