Bipolare Störung
Manisch-Depressive Erkrankung: Leben mit extremen Stimmungen
14.08.2013 Von Dr. Christine Amrhein
So gut hat sich Roland S. noch nie gefühlt. Der 37-jährige Bühnenarbeiter hat plötzlich das Gefühl, dass er alles erreichen kann, was er will. Seine Kräfte scheinen unerschöpflich, schon seit Tagen schläft er kaum. Nie fiel es ihm so leicht, Leute, auch ganz fremde, anzusprechen.
Eigentlich sollte er sich nicht damit begnügen, Kulissen auf- und abzubauen. Er sollte es sein, der auf der Bühne steht und den Schauspielern das Stück erklärt, denn er sprüht nur von Ideen.
Seine Kollegen sind jedoch völlig irritiert. Rolands Euphorie, seine vielen Ideen, wie der Spielbetrieb eigentlich laufen sollte, das wird ihnen zu viel, vor allem auch, weil er seine eigentlichen Aufgaben gar nicht mehr ausführt. Sie können sich gar nicht erklären, was in ihn gefahren ist. Und dann verhält er sich so eigentümlich, kommt vielen Schauspielern, mit denen er eigentlich nichts zu tun haben sollte, zu nah. Einige von ihnen haben sich schon bei der Theaterleitung beschwert. Als er dann sogar handgreiflich wird, weil er von einem Kollegen daran gehindert wird, die Scheinwerfer anders auszurichten, und beginnt, die ganze Beleuchtung auf die Bühne zu werfen, hat sein Chef genug und ruft den Rettungsdienst *)
Der Antrieb ist deutlich gesteigert, Leistungsfähigkeit und Kreativität ebenso, außerdem fällt ein überhöhtes Selbstbewusstsein auf und der Realitätsbezug scheint Roland S. längst entglitten zu sein: Die Symptome sind ausreichend eindeutig, damit der Psychiater eine Manie diagnostizieren kann.
Belastungen lösen Manie oder Depression aus
Manische Episoden beginnen in der Regel rasch innerhalb von Stunden bis Tagen. Der Beginn der einzelnen Episoden ist oft mit belastenden Ereignissen oder Situationen in Zusammenhang zu bringen. Roland S. hatte vor seiner manischen Phase wiederholt schwierige Auseinandersetzungen mit seiner Freundin. Das ging so weit, dass sie sich schließlich von ihm verabschiedete.
Das ist nicht die erste manische Phase, die Roland S. erlebt, schon vor vier Jahren ging es ihm so. Und er kennt auch schwere Tiefs, drei Mal hat er eine depressive Episode erlitten.
Roland S. leidet an einer bipolaren Störung. Das ist eine psychische Erkrankung, bei der vor allem die Affekte, also Stimmung, Gefühle und Emotionen und auch der Antrieb betroffen sind. Betroffene erleben einerseits Phasen, in denen sie sich alles zutrauen, sich in ihrer Leistungsfähigkeit und Kreativität völlig überschätzen, einen derart gesteigerten Antrieb, dass sie kaum noch schlafen müssen. Sie fühlen sich großartig, was sich bis zum Wahn steigern kann. Sie reden ohne Unterlass und kommen ihren eigenen Ideen selbst kaum noch hinterher. Will man sie bremsen, kann die Stimmung in Gereiztheit umschlagen und sich bis zu einem aggressiven Erregungszustand steigern.
Nach Euphorie Abrutschen ins Tief
Diese manische Phase endet meist mit einem Abrutschen in die Depression. Dieses Abrutschen ist besonders gefährlich, denn der Patient verfügt in dieser Phase noch über den euphorischen Antrieb der Manie, leidet aber bereits unter der Stimmung der Depression. Das bedeutet, der Betroffene hat Antrieb genug, sich selbst etwas anzutun.
Die bipolare Störung ist gekennzeichnet durch Phasen (Episoden) von Hypomanien, Manien und Depressionen, zwischen denen es durchaus lange beschwerdefreie Phasen geben kann. Bei einer Hypomanie ist die Symptomatik sehr ähnlich, aber deutlich schwächer.
Die Länge und der Schweregrad der Phasen können sehr unterschiedlich sein. Die meisten Betroffenen erleben mehr und längere depressive Phasen. Es gibt aber auch Verläufe, in denen fast nur manische Episoden vorkommen.
In einer Phase der Manie oder Hypomanie fühlen sich die Betroffenen extrem selbstbewusst, haben sehr viel Energie und ein deutlich geringeres Bedürfnis zu schlafen. Oft kommt es zu unüberlegten und sogar gefährlichen Handlungen, die weitreichende negative Folgen haben können. So machen Menschen während einer Manie spontan teure Einkäufe, leiten eigenmächtig größere Veränderungen am Arbeitsplatz ein oder vernachlässigen Verpflichtungen in der Familie und im Beruf. Dieses unbedachte Verhalten führt oft zu Verschuldung, zu Kündigungen am Arbeitsplatz, zum Scheitern von Beziehungen oder zu rechtlichen Konsequenzen. Die deutlich gesteigerte Libido und Distanzlosigkeit können dazu führen, dass manche sich plötzlich auf viele Liebhaber einlassen.
Roland S. hat seit Tagen die Wohnung nicht mehr verlassen. Er ist nach seiner Hochphase in ein tiefes Loch gefallen. Hat er während der manischen Phase sich selbst und seine Fähigkeiten maßlos überschätzt, so geschieht nun das Gegenteil. Er traut sich überhaupt nichts mehr zu, macht sich beispielsweise Vorwürfe weil er es nicht einmal mehr schafft, in seiner Wohnung wenigstens das Mindeste zu tun. In die Arbeit geht er schon seit Wochen nicht mehr. Er hat kaum noch Appetit. Er schläft schlecht ein und kaum durch und wacht morgens sehr früh auf und dann geht es ihm am schlechtesten. Er bereut, wie er sich während seines Hochs verhalten hat und denkt auch schon mal, dass es am besten wäre, wenn er niemanden mehr mit seinen Stimmungen belasten würde.
Während einer depressiven Phase ist seine Stimmung niedergeschlagen, er hat kaum Energie und kann sich kaum noch an etwas im Leben freuen. Bei einer bipolaren Störung erleben die Betroffenen abwechselnd extreme Stimmungshochs und ausgeprägte Stimmungstiefs. Die Betroffenen rutschen dabei oft unmittelbar nach einer manischen oder hypomanischen Episode oder auch aus einer Phase mit ausgeglichener Stimmung in tiefe Depressionen ab. Die Symptome während einer depressiven Phase sind sehr ähnlich wie die Symptome einer unipolaren Depression, bei der keine Manien oder Hypomanien auftreten (Depression).
Manische Phasen für Umgebung häufig schlimmer
Für die Familie von Roland S. ist es fast leichter, die depressiven Phasen auszuhalten. Auch wenn das komisch klingt, dann wissen sie wenigstens, wo er ist und dass er nichts anstellen kann. Nur um ihn selbst machen sie sich Sorgen. Immerhin nimmt er wieder seine Medikamente und inzwischen ist er auch bereit, eine Psychotherapie zu beginnen.
Die Manie ist wahrscheinlich die einzige psychische Störung, die viele Betroffene zunächst als positiv erleben. Doch die Höhenflüge rauben dem Betroffenen sehr viel Kraft. Außerdem kommt es selten vor, dass ein Betroffener nur an Manie leidet. Meist wechseln sich manische und depressive Phasen ab.
Um eine bipolare Störung diagnostizieren zu können, müssen laut ICD-10, der internationalen Klassifikation von Krankheiten, mindestens zwei Episoden, in denen Stimmung und Aktivitätsniveau deutlich beeinflusst sind, auftreten. Etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung sind von einer manisch-depressiven Erkrankung, also einer Bipolar-I-Störung betroffen, Männer genauso häufig wie Frauen. Eine Bipolar-II-Störung, also eine Erkrankung, in der sich hypomanische und depressive Phasen abwechseln, kommt bei etwa vier Prozent der Bevölkerung vor, gemischte Episoden bei etwa einem Prozent der Bevölkerung.
Ist die Erkrankung jedoch einmal erkannt, können geeignete Behandlungsmaßnahmen eingeleitet werden. Am hilfreichsten hat sich dabei eine Kombination aus Medikamenten (Psychopharmaka) und Psychotherapie erwiesen. Die Medikamente können dazu beitragen, die Stimmung langfristig weitgehend stabil zu halten und so Phasen mit Manien und Depressionen entgegenwirken. Eine Psychotherapie kann diese Behandlung sinnvoll ergänzen. Sie hilft den Betroffenen, Experten ihrer eigenen Erkrankung zu werden, ein Kippen der Stimmung rechtzeitig zu erkennen und zu verhindern sowie insgesamt ein ausgewogeneres Leben zu führen.