Co-Abhängigkeit

Wie Angehörige durch suchtbegünstigendes Verhalten zur Verlängerung einer Suchterkrankung beitragen können

16.11.2020 Von Dr. Christine Amrhein

Wenn ein nahestehender Mensch in eine Sucht abgleitet, ist es normal, dass Angehörige, Freunde oder Kollegen ihm helfen möchten. Für die Angehörigen ist es dabei wichtig, eine gute Balance zwischen Unterstützung für den Suchtkranken und eigenen Zielen und Bedürfnissen zu finden. Denn es kommt nicht selten vor, dass Familienmitglieder oder Freunde sich intensiv um den Betroffenen kümmern. Dabei werden eigene Gefühle, Bedürfnisse und Lebensinhalte stark zurückgestellt. Ihr Leben dreht sich quasi nur noch um den suchtkranken Angehörigen. Durch ihr Verhalten tragen sie ungewollt dazu bei, dass die Sucht aufrechterhalten wird. In diesem Fall spricht man auch von einer Co-Abhängigkeit.

Wie kann es den Betroffenen gelingen, sich aus der Co-Abhängigkeit zu befreien und sich wieder stärker auf das eigene Leben zu konzentrieren? Und wie können Angehörige dem Suchtkranken tatsächlich helfen, die Sucht zu überwinden? Informationen dazu erhalten Sie im folgenden Artikel.

Franziska G. ist 49 Jahre alt, Verwaltungsangestellte und seit 24 Jahren mit ihrem Mann Werner verheiratet. Ihre beiden Kinder sind bereits erwachsen und leben in anderen Städten. Schon in der ersten Zeit ihrer Beziehung fällt Franziska G. auf, dass ihr Mann gerne Alkohol trinkt. In seinem Job als Bauarbeiter ist es üblich, ab und zu ein Bier zu trinken, und abends geht er öfters zu Vereinstreffen oder trifft sich mit Freunden in der Kneipe. Am Anfang stört Frau G. das nicht besonders. Später, als die Kinder größer werden, ist ihr Mann immer öfter außer Haus und kommt auch öfter betrunken nach Hause. Frau G. vermutet immer mehr, dass er ein Alkoholproblem hat. Anfangs versucht sie, ihn darauf anzusprechen und zu motivieren, sich Hilfe zu suchen. Ihr Mann bestreitet jedoch, dass er ein Problem hat und lehnt jede Hilfe ab.

Im Lauf der Zeit kommt es immer häufiger vor, dass Werner G. nach exzessivem Alkoholkonsum nicht zur Arbeit gehen kann. Auch andere Aufgaben und Verpflichtungen vernachlässigt er immer mehr. Franziska G. macht sich große Sorgen, dass er seine Arbeit verlieren könnte und entschuldigt ihn immer wieder bei seinem Arbeitgeber. Außerdem übernimmt sie immer mehr Aufgaben für ihn. Aus Angst, ihr Mann könnte betrunken „Dummheiten machen“, holt sie ihn häufig abends oder spät nachts aus der Kneipe ab.

Von Zeit zu Zeit wird ihr Mann unter Alkoholeinfluss wütend, schreit sie an und macht ihr Vorwürfe. Von anderen Leuten erfährt Frau G., dass er häufig mit anderen Frauen flirtet und auch Affären hat, was sie sehr belastet. Immer wieder denkt sie darüber nach, sich zu trennen, und auch ihre Freunde und Kinder raten ihr dazu. Andererseits hofft sie immer noch, dass alles „wieder gut“ werden könnte. Sie kümmert sich dann besonders um ihren Mann und kocht zum Beispiel sein Lieblingsgericht – in der Hoffnung, ihn so wieder zu versöhnen und ihn vom Trinken und vom Fremdgehen abzuhalten. Tatsächlich kommt es immer wieder vor, dass ihr Mann sich entschuldigt, besonders nett zu ihr ist und verspricht, ab jetzt weniger zu trinken. Dann schöpft Frau G. jedes Mal Hoffnung, dass ab jetzt alles besser werden könnte.

Doch mit der Zeit leidet Franziska G. immer stärker unter der Situation. Sie fühlt sich häufig niedergeschlagen, schläft schlecht, macht sich viele Sorgen und weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll. Einerseits ist die Situation für sie kaum noch erträglich, andererseits kann sie sich nicht vorstellen, ihren Mann zu verlassen. Sie hat das Gefühl, dass sie alleine völlig hilflos wäre, nicht zurechtkommen würde und ihr Leben dann keinen Sinn mehr hätte.

Definition: Was versteht man unter Co-Abhängigkeit?

Wenn jemand Alkohol, Drogen oder Medikamente (wie Schlaf- Beruhigungs- oder Schmerzmittel) missbraucht oder eine Abhängigkeit entwickelt, beeinträchtigt das auch das Leben der Angehörigen stark. Das betrifft in erster Linie den Partner und die Kinder, aber auch andere Bezugspersonen wie Eltern, Freunde oder Arbeitskollegen. Der Suchtkranke ist für sie nach wie vor ein wichtiger, nahestehender Mensch und sie möchten ihm helfen, dass es ihm bessergeht. Vielen Angehörigen gelingt es dabei, ein gutes Gleichgewicht zwischen einer hilfreichen Unterstützung des Suchtkranken und eigenen Zielen und Bedürfnissen zu finden. Es muss also nicht sein, dass Angehörige eine Co-Abhängigkeit entwickeln.

Von Co-Abhängigkeit spricht man, wenn ein Angehöriger den starken Wunsch hat, dem Suchtkranken zu helfen oder ihn zu „retten“, sich intensiv um ihn kümmert und dabei eigene Bedürfnisse, Gefühle und Lebensinhalte stark vernachlässigt. Sein ganzes Denken, Fühlen und Handeln dreht sich nur noch um den suchtkranken Angehörigen. So wird er quasi selbst mit in die Sucht verstrickt. Zudem ist sein Verhalten zwar gut gemeint, aber nicht hilfreich. Denn es trägt nicht dazu bei, dass der Suchtkranke seine Sucht überwinden kann. Das Verhalten führt im Gegenteil dazu, dass die Sucht aufrechterhalten wird und sich möglicherweise weiter verschlechtert.

Mit „Co-Abhängigkeit“ ist also ein bestimmtes, typisches Verhalten von Angehörigen eines Suchtkranken gemeint. Es bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass jemand psychisch krank ist. So gibt es auch in den internationalen Diagnosesystemen keine Diagnose „Co-Abhängigkeit“. Stattdessen soll der Begriff dazu beitragen, dass Angehörige ihr problematisches Verhalten besser verstehen können und anfangen, etwas daran zu ändern.

Allerdings kann Co-Abhängigkeit unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Auch sind mit co-abhängigem Verhalten vielfältige Belastungen verbunden. Aufgrund dessen ist das Risiko erhöht, als Angehöriger selbst irgendwann eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Das ist vor allem dann der Fall, wenn der Suchtkranke nicht bereit ist, professionelle Hilfe anzunehmen und die Sucht mit der Zeit chronisch wird. Dann kümmern sich die Angehörigen häufig immer intensiver um ihn, vernachlässigen eigene Bedürfnisse immer mehr und sind zunehmend belastet und erschöpft.

Der psychologische Psychotherapeut und Experte für Co-Abhängigkeit Jens Flassbeck unterscheidet drei verschiedene Ausprägungen von Co-Abhängigkeit:

  1. Jemand zeigt typische co-abhängige Erlebens- und Verhaltensweisen mit dem Risiko, eine Co-Abhängigkeit zu entwickeln.
  2. Der Betroffene ist problematisch in die Sucht eines Angehörigen verstrickt.
  3. Das co-abhängige Verhalten ist stark ausgeprägt, so dass eine co-abhängige Störung besteht.

Kritik am Begriff der Co-Abhängigkeit

Einige Experten kritisieren, dass der Begriff Co-Abhängigkeit unterstellt, die Angehörigen würden durch ihr Verhalten zur Aufrechterhaltung der Sucht beitragen. So wird ihnen indirekt eine Mitschuld an der Sucht gegeben.

Weiterhin legt das Wort „co-abhängig“ nahe, die Angehörigen seien ebenfalls abhängig und somit psychisch krank. Manche Fachleute schlagen daher vor, statt „Co-Abhängigkeit“ besser von „suchtbegünstigendem Verhalten“ zu sprechen.