Familienstress und Einsamkeit

Erwartungen an frohe besinnliche Weihnachten oft unerfüllt

25.11.2014 Von Ulrike Propach

Für viele Menschen bedeutet Weihnachten Stress und Streit in der Familie oder die Erfahrung der Einsamkeit

Lesen Sie unser Expertengspräch zu Weihnachtsstress mit Fritz Propach und den persönlichen Erfahrungsbericht zu Stress und Einsamkeit an Weihnachten.

Wie lässt sich Weihnachtsstress vermeiden?

Ein Gespräch mit Dipl.-Psych. Fritz Propach

Draußen ist es bitterkalt, wie Puderzucker liegt Schnee auf Feld und Wald, die Großfamilie versammelt sich glücklich und zufrieden um den Tannenbaum, Kerzenschein und Plätzchenduft - Weihnachten liegt in der Luft. Doch das beschauliche, harmonische Idyll ist selten Realität - für viele ist Weihnachten purer Stress. Man hetzt in überfüllte Geschäfte, gibt viel zu viel Geld für Geschenke aus und verbringt Stunden in der Küche, um ein Festtagsmenü zu zaubern. Am Ende konnte es niemandem Recht gemacht werden und es kommt zu anstrengenden Auseinandersetzungen und Streitereien. Der Vorbereitungsstress löst sich zumeist nicht auf in erholsame und beseelte Feiertage, sondern maximiert sich in drei Tagen, die oft geprägt von Familienstreitigkeiten sind oder in Einsamkeit versinken.

Zeitdruck, unumgängliche Verpflichtungen, die Frage nach Sinn und Zweck aller Aktivitäten zum Jahresende: Der Erfahrungsbericht von Andreas B. aus München macht deutlich, dass viele die Weihnachtszeit über sich ergehen lassen, unzufrieden damit sind, wie sie die Festtage verleben – aber auch keinen Ausweg sehen, wie sie besser mit diesem "Ausnahmezustand" umgehen könnten.

Wie bekommt man den Weihnachtsstress in den Griff und vermeidet Frust? Diplom-Psychologe Fritz Propach, der Vorsitzende von „Pro Psychotherapie e.V.“, dazu in einem Expertengespräch:

Manch einer teilt die von Andreas B. beschriebene Abneigung gegenüber Weihnachten und erlebt die Feiertage gar nicht als harmonisches und gemeinschaftliches "Fest der Liebe". Immer mehr entwickelt sich ein regelrechter Weihnachtsfrust. Woher kommt das?

Fritz Propach: »Idyllische weiße Weihnachten, wie sie uns die Werbung vormachen will, gibt es einfach nicht. Auf kommerziellem Wege werden immer mehr Erwartungen geweckt, die gar nicht erfüllt werden können. Viele Familien verbringen an Weihnachten plötzlich so viel Zeit miteinander auf engstem Raum, wie sonst über das gesamte Jahr verteilt nicht. Unerfüllbare Erwartungen und Konflikte sind da vorprogrammiert. Bei Singles verstärkt die idealisierte Darstellung der Familie unter dem Weihnachtsbaum oftmals das Gefühl von Einsamkeit. Sie werden gerade durch die Feiertage, über die im Freundeskreis aufgrund familiärer Verpflichtungen kaum jemand mal Zeit hat, mit der als "Defizit" empfundenen Tatsache konfrontiert, selbst keinen Partner oder keine eigene Familie zu haben. Manch einer hat niemanden, mit dem er Weihnachten feiern kann, und wiederum andere suchen verzweifelt nach Möglichkeiten, sich den gemeinschaftlichen Verpflichtungen zu entziehen.«

Was raten Sie denn zum Beispiel einem Single, der sich vor einem einsamen Heiligabend fürchtet?

Fritz Propach: »Inzwischen gibt es zahlreiche Angebote, was man über die Weihnachtstage unternehmen kann: Viele, die vielleicht auch mit Weihnachtstraditionen nichts anfangen können, nutzen die Feiertage für einen Urlaub in sonnigen Regionen. Doch auch "zu Hause" bieten sich über Weihnachten eine Vielzahl von besinnlichen Anlässen, wilden Partys und abwechlsungsreichen Events, zu denen es anstatt unter den Weihnachtsbaum viele Gleichgesinnte zieht. Ich sehe Zweifel und Ängste aber auch als Chance, um etwas zu verändern: sich zu überlegen, mit wem man Weihnachten gerne verbringen würde, vielleicht den Mut zusammen zu nehmen, einen heimlich geliebten Menschen anzusprechen, das Gefühl einsam zu sein, als Anstoß zu nehmen, Sport zu treiben oder in einen Verein einzutreten. Vielleicht aber auch den Schritt zu wagen, sich therapeutische Hilfe zu suchen, anstatt sich immer weiter zurückziehen.«

Viele Menschen können sich an den Weihnachtstagen vor familiären "Pflichtterminen" kaum noch retten: Heiligabend verbringen sie bei seinen Eltern, den ersten Weihnachtsfeiertag bei ihren Eltern und am 26. Dezember fahren sie zu Uroma, Tante oder Patenonkel. Ruhe kehrt kaum ein... Oft werden Differenzen mit den Schwiegereltern gerade an Weihnachten sichtbar. Was lässt sich da tun?

Fritz Propach: »Die Zahl der Termine und Ortswechsel muss erträglich und umsetzbar bleiben. Natürlich sind die Wünsche der Verwandten verständlich, Kinder und Enkel oder die eigenen Eltern sehen zu wollen. Gerade bei Familien, deren Elternteile weit von einander entfernt wohnen, führt Weihnachten jedes Jahr wieder zu einer Zerreißprobe. Warum nicht den Spieß mal umdrehen und zu sich nach Hause einladen? Sind Differenzen vorprogrammiert, versuchen, "erwachsen" damit umzugehen und sich rechtzeitig über Erwartungen und Wünsche auszutauschen. Oder einfach auch mal die Zusammensetzung der Feier ändern und damit eine neue Atmosphäre schaffen: Wer Freunde dazu einlädt, lockert die Familienbindung und unterbindet damit eventuell typische Familienthemen.«

Insgesamt werden die meisten schon in der Vorweihnachtszeit nahezu von den zusätzlichen Verpflichtungen erdrückt. Kann man diesem Stress entkommen?

Fritz Propach: »Gegen geschäftliche Verpflichtungen, die noch im alten Jahr erledigt sein müssen, lässt sich wenig machen. Aber der Stress aus Zeitmangel lässt sich in den Griff bekommen: Nicht jede Weihnachtsfeier ist Pflicht, Geschenke können schon unter dem Jahr besorgt werden, sobald einem etwas einfällt, und wenn keine Zeit für Weihnachtspost bleibt, schickt man im Januar Neujahrsgrüße oder nimmt sich vor, zu einem anderen Zeitpunkt wieder ausführlich zu schreiben. Außerdem tut mehr Toleranz sich selbst gegenüber gut: weder muss die Wohnung für Weihnachten perfekt geputzt sein, noch muss es an drei Tagen hintereinander Festmenüs geben, die man planen, für die man einkaufen und die man erst stundenlang kochen muss.«

Warum kommt es gerade an den Feiertagen in vielen Familien zu heftigen Streitigkeiten?

Fritz Propach: »Zu Weihnachten treffen einfach diverse Erwartungshaltungen aufeinander. Jemand möchte an Traditionen festhalten, der andere würde diese Konventionen am liebsten durchbrechen. Besuche, gemeinsame Essen, Geschenkorgien finden vielfach nur statt, um es jemand anderem Recht zu machen. Hinzu kommt, dass fast jeder gestresst ist und bis kurz vor Ladenschluss am 24. Dezember noch zahlreiche Dinge zu erledigen hat. Selten werden Wünsche und Erwartungen vorab thematisiert, zu selten werden Aufgaben verteilt: Vieles bleibt an Mutter und Vater hängen, doch auch Kinder können bei den Vorbereitungen vom Einkaufen bis hin zum Schmücken des Baumes Aufgaben übernehmen. Rechtzeitig vor den Weihnachtstagen sollte darüber gesprochen werden, von welchen althergebrachten Ritualen man sich gerne lösen würde und welche Kompromisse man finden kann, damit das "Fest der Liebe" für jedes Familienmitglied erholsam und ausfüllend wird.«

Kann man sich einem konsumorientierten Weihnachten überhaupt noch entziehen?

Fritz Propach: »Es ist heute tatsächlich ein Problem, sich auf den Kern der Weihnachtsgeschichte zu besinnen und die vielfach überhöhten Erwartungen an Geschenke auf ein realistisches Maß herunter zu schrauben. Gerade Familien mit Kindern spüren die finanzielle Belastung der Adventszeit mit Weihnachtsmärkten, Nikolaus-Präsenten, Geschenken zu Heiligabend, festlichen Essen an den Weihnachtstagen und dem drohenden Silvesterabend zum Jahresende sehr. Man muss nicht jedem etwas schenken! Und es wird Zeit die "Aufrüstungsspirale" zu durchbrechen: Nicht weil ich letztes Jahr ein Geschenk im Wert von 100 Euro bekommen habe, muss ich dieser Person nun ebenfalls etwas schenken, das 100 Euro oder mehr wert ist. Habe ich keine Idee und keine Zeit, ein Geschenk zu kaufen, tut es auch mal das selbst gelesene Buch, das noch wie neu aussieht! Und vor allem: persönliche Geschenke, wie Zeitgutscheine für Hilfe für den Haushalt oder Babysitten oder die Organisation von einem gemeinsamen Ausflug oder anderen Aktivitäten erfreuen oft viel mehr.«

Wie kann man die Weihnachtszeit positiver für sich gestalten?

Fritz Propach: »Hinterfragen Sie doch einmal ihre innere Einstellung zu Weihnachten: Was ist Ihnen an diesem Fest wichtig? Was bedeutet es Ihnen, Zeit mit Ihrer Familie verbringen zu können? Wie viel machen Sie, weil Sie denken, dass man es von Ihnen erwartet, oder weil man es eben so macht? Trotzen Sie dem Erwartungsdruck von außen und machen Sie, was sie wollen! Die Weihnachtsfeiertage bieten Ihnen Freizeit für Dinge, die Sie gerne machen wollen. Zeit ist gerade heute in der stressigen Arbeitswelt ein wertvolleres Geschenk als so manches gekaufte, unpersönliche Präsent.«