Schizophrenie

Wenn phasenweise der Bezug zur Realität verloren geht

01.10.2021 Von Angelika Völkel

Als es vor etwa einem Jahr zum ersten Mal passierte, war die 24-jährige Anna G. so irritiert, dass sie sich an ihrem PC-Arbeitsplatz umsah, ob sie jemand angesprochen hatte. Sie hatte sogar das Fenster geöffnet und hinausgeschaut. Ihre drei Kolleginnen, die wie sie als Sekretärin in einer großen Anwaltskanzlei arbeiteten, schauten sie fragend an. Alle waren zuvor in ihre Arbeit vertieft gewesen, niemand hatte etwas zu ihr gesagt. Trotzdem hatte sie es doch genau gehört: „Du hast diesen Job überhaupt nicht verdient!“ Vielleicht war es doch auf der Straße gewesen? Aber es hatte so deutlich und nah geklungen und außerdem hatte sie gewusst, dass sie gemeint war! Ihre Kolleginnen waren zwar keine engen Freundinnen, aber sie kamen eigentlich gut miteinander aus. Man half sich hier und da und sie konnte sich nicht vorstellen, dass eine von ihnen so etwas zu ihr sagen sollte.

Doch bei diesem Zwischenfall blieb es nicht. Die Stimme sprach immer öfter zu ihr. Anna G. hatte Angst, verrückt zu werden. Zweifellos war die Stimme in ihrem Kopf. Vielleicht war es auch Gott, der zu ihr sprach? Aber dieser Gedanke erschreckte sie nur noch mehr, zumal sie keinen guten Stand bei ihm zu haben schien. Die Stimme redete ihr ein, nichts wert und schlecht zu sein und dass sie die guten Dinge in ihrem Leben überhaupt nicht verdient hätte. Wenn sie die Stimme hörte, war sie auch sehr von der Arbeit abgelenkt, machte Fehler, vergaß etwa Termine einzutragen und konnte sich nicht mehr richtig konzentrieren. Jedes Mal drohte sie in Panik auszubrechen, am liebsten wäre sie weggelaufen.

Den Gesprächen mit den Kolleginnen in den Pausen konnte sie nicht mehr richtig folgen und zog sich, wenn man sie fragte, im Gespräch meist auf Allgemeinplätze zurück, was die anderen manchmal irritierte. Vor kurzem hatte sie es zum ersten Mal gewagt, der Stimme zu antworten und es kam zu einer heftigen Diskussion. Sie fuhr alleine im Auto und war froh, dass niemand sie beobachten konnte.

In den vergangenen Tagen war die Stimme häufiger in ihrem Ohr und sie hatte deswegen schreckliche Angst. Sie wurde sie einfach nicht los. Manchmal, wenn sie ganz fest die Augen schloss und sich sehr auf einen völlig anderen Gedanken konzentrierte, konnte sie die Stimme verdrängen. Aber das klappte nicht immer, und auch nicht jede Situation war für eine solche Übung geeignet. Wenn sie vorsichtig versuchte, das Thema mit ihrem Partner zu besprechen und ihm erzählte, sie habe so viele Dinge im Kopf, dass sie sich kaum noch konzentrieren könne und überlastet fühle, meinte der nur, sie solle früher schlafen gehen und sich nicht so anstellen. Das war wirklich keine große Hilfe. Sie fühlte sich immer schlechter, war unruhig und bekam Schweissausbrüche.*)

Zeitweise geht der Bezug zur Realität verloren

Anna G. leidet an einer Schizophrenie. Psychische Grundfunktionen, die dem Einzelnen die Sicherheit geben, wer er ist und dass er über sich und seine eigenen Fähigkeiten verfügen kann, sind besonders von dieser Störung betroffen. Menschen, die an dieser Störung leiden, haben in gewisser Weise ihr Selbstverständnis verloren, eine einzigartige Person zu sein. Das geht so weit, dass Betroffene beispielsweise davon überzeugt sind, dass andere Menschen wissen oder steuern können, was sie denken oder fühlen.

Bedrohlich klingende Stimmen zu hören, ohne einen Menschen zu sehen, der spricht, das kann erschreckend sein. Die Gedanken im Kopf nicht mehr als die eigenen zu identifizieren, den Körper als so verändert wahrzunehmen, dass man nicht mehr weiß, ob er zu einem selbst gehört, das nimmt einem jede Sicherheit.

Die Schizophrenie ist die häufigste Störung aus dem Komplex der Psychosen. Menschen, die an einer Psychose leiden, verlieren für eine gewisse Zeit den Bezug zur Realität. Wahrnehmung, Denken, Gefühle und auch der Kontakt zu anderen Menschen verändert sich plötzlich und leider auf meist sehr bedrohliche Art und Weise.

Frühsymptome zeigen sich Jahre vor Ausbruch der Krankheit

Die meisten Betroffenen entwickeln bereits Jahre davor Frühsymptome, auch wenn die Störung unvermutet auszubrechen scheint. Zum Beispiel ziehen sie sich sozial immer mehr zurück, sie neigen verstärkt dazu, Dinge auf sich zu beziehen, sie leiden unter depressiven Verstimmungen oder unter Konzentrations- und Gedächtnisstörungen.

Das Denken, die Gefühle, die Wahrnehmung wie Hören, Sehen oder Riechen verändern sich bei einer Schizophrenie. Die Wahrnehmung des eigenen Inneren und dessen, was außerhalb der eigenen Person geschieht, können Betroffene kaum noch unterscheiden. Das kann dazu führen, dass sie Stimmen hören, Erscheinungen sehen, die Menschen in ihrer Umgebung nicht wahrnehmen können oder dass sie ihren eigenen Körper oder Körperempfindungen als völlig verändert erleben. Schon vor Ausbruch einer akuten Psychose kann der Betroffene Wahn oder Halluzinationen erleben.

Der eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen zu können, ist eine so erschütternde Erfahrung, dass die meisten Betroffenen es nicht mehr schaffen, mit einem anderen Menschen offen darüber zu sprechen. Dazu kommt, dass viele Betroffene zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen und behandelt werden. Das sind Erfahrungen, die extrem verunsichern.

Das gesamte Leben von der Erkrankung betroffen

Schizophrenie ist eine schwere Erkrankung und muss unbedingt behandelt werden. Sie beeinflusst das gesamte Leben der Betroffenen sehr stark. Im Durchschnitt haben Betroffene eine 20 Jahre niedrigere Lebenserwartung als gesunde Menschen. Wer daran leidet, hat auch ein größeres Risiko an körperlichen Erkrankungen wie Krebs oder Lungenleiden, Stoffwechsel- oder Herzkreislauferkrankungen zu leiden.

Sehr viele, die an dieser Störung erkranken, schaffen es nicht, sich langfristig auf dem ersten Arbeitsmarkt zu behaupten. Der Jobverlust führt dann oft dazu, dass die Miete nicht mehr bezahlt werden kann. Der soziale Abstieg ist vorprogrammiert. Denn die wenigsten, die das erleben, verfügen über ein ausreichend stabiles soziales Netz, das sie dann auffangen könnte.

Je früher Menschen, die an Schizophrenie leiden, behandelt werden, desto besser können sie behandelt werden und ihr Leben so fortsetzen, wie sie es vor der Erkrankung geführt haben.