Die Dialektisch-Behaviorale Therapie von Marsha Linehan

Mit den gesunden Anteilen zu einem erfüllten Leben

Von Angelika Völkel

„Wenn ich es kann, dann kannst du es auch“ - Marsha Linehan hat ihre Lebensgeschichte und damit die Geschichte über ihre Entwicklung der Dialektisch-Behavioralen Therapie geschrieben

"Bist du eine von uns?", wird Marsha Linehan als Psychotherapeutin einmal von einer Klientin gefragt. Wäre sie eine von ihnen, dann bedeutete es für alle anderen echte Hoffnung, erklärt die Klientin den Grund ihre Frage. Marsha Linehan bejaht. Ihre Lebensgeschichte gibt sie aber erst sehr viel später preis. Es hätte das Ende ihrer wissenschaftlichen Karriere bedeutet, wenn bekannt geworden wäre, dass sie im Alter von 17 Jahren in das Institute of Living, eine psychiatrische Einrichtung in Hartford, Connecticut, eingeliefert wurde und dort genau zwei Jahre und einen Monat vor allem in der Abteilung für besonders schwere Fälle verbracht hatte. Die junge Frau leidet während des letzten High-School-Jahres an sehr starken Kopfschmerzen, so dass sie monatelang bettlägerig ist.

Als Jugendliche leidet sie selbst unter großen psychischen Problemen

Um eine Diagnose stellen zu können, wird sie in das 2000 Kilometer entfernte Institut gebracht. Dort schaut sie sich sozusagen das selbstverletzende Verhalten ab. Sie ritzt sich die Unterarme, verbrennt sich die Haut mit Zigaretten oder schlägt den Kopf gegen die Wand, wenn sie wie so oft in das Isolierzimmer gesteckt wird, wo sie vor sich selbst geschützt werden soll. Sie gilt als hochsuizidal und wird einmal als schizophren, einmal als depressiv diagnostiziert. Keiner weiß genau, was mit ihr los ist, sie selbst am wenigstens. Aus dem beliebten und kontaktfreudigen High-School-Mädchen war eine der verstörtesten Patientinnen geworden, die das Institut damals behandelte.

Marsha Linehan wächst als drittes von sechs Geschwistern in einer katholischen Upper-class-Familie in Tulsa, Oklahoma auf. Der Vater arbeitet in der Ölindustrie, die Mutter ist Hausfrau. Auch wenn alles perfekt scheint, Marsha Linehan selbst leidet darunter, nicht in diese Idylle zu passen.

In ihren Memoiren, die jetzt bei Random House New York erschienen sind, formuliert sie Mitleid mit dem Menschen, der sie zu dieser Zeit war, nahe steht sie ihm nicht. Doch dem damals gegenüber Gott abgelegten Gelübde, andere aus dieser Hölle zu holen, sobald sie selbst daraus entkommen wäre, dem bleibt die große Psychotherapeutin ihr Leben lang treu.

Als sie das Institut verlassen darf, geschieht das nicht, weil sie etwa als geheilt gilt, sondern weil man nicht mehr weiterweiß und der Vater die teure Privatklinik nicht mehr bezahlen will. Die Ärzte prognostizieren, dass sie außerhalb der Klinik nicht überleben werde. Doch solche Urteile spornen Marsha Linehan erst richtig an. Das Gelübde, das sie als 17-Jährige abgelegt hat, und auch ihre tiefe Sehnsucht nach Gott leiten sie auf ihrem langen Weg, bis sie endlich in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) entwickelt - eine Therapieform, die Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung effektiv hilft und auch vielen anderen Menschen, die hochsuizidal sind und an Störungen wie Depressionen oder Ängsten leiden oder abhängig von Substanzmitteln sind.

Im Fokus steht der Patient mit seinen gesunden Anteilen

"Building a life worth living": Der Titel der Memoiren formuliert, worum es Marsha Linehan geht. Im Fokus steht der Patient, der mit seinen gesunden Anteilen immer noch ausreichend Spielraum hat, sich ein Leben aufzubauen, das es wert ist, gelebt zu werden. Ihre sprühend lebendig und sehr verständlich geschriebene Autobiographie ist sehr bewegend.

Die heute 77-jährige Frau scheibt mit großer Freundlichkeit, aber auch Offenheit ihrem Leben gegenüber. So wollte sie nie ein eigenes Kind, weil die Angst zu groß war, es könnte das gleiche Schicksal erleiden müssen wie sie. In höherem Alter bekommt sie doch noch eine Tochter. Eine 16-Jährige aus Peru nimmt bei ihr Logis, weil sie in Seattle studieren will. Die beiden Frauen wachsen so zusammen, dass Marsha Linehan zu einer zweiten Mutter auserkoren wird. Schwiegersohn und Enkeltochter vervollständigen die erste Familie, zu der sie sich endlich als zugehörig erlebt.

In ihren Memoiren erwähnt sie viele Menschen, die sie begleiten, Kollegen, Psychiater, Freunde, Geschwister, aber vor allem auch ihre geistlichen Begleiter, Priester und Zen-Meister. Marsha Linehan, die ihr Leben Gott weiht und tiefe geistliche Erfahrungen macht, braucht viel Erfahrung und Mut, bis sie als eine der ersten ihres Fachs wichtige Elemente aus dem spirituellen Leben, beispielsweise Akzeptanz aus dem Zen-Buddhismus, in die Psychotherapie einbaut.

Ihr Weg ist mit vielen Steinen gepflastert. Viele ihrer Schritte muss sie mehrfach gehen.

Sie ist unbestechlich. Anders als die meisten Kollegen beginnt sie die öffentliche Diskussion ihrer neuesten Studien mit den Fehlern, die man darin finden könnte. Sie ist hartnäckig. Wird die Veröffentlichung einer Studie abgelehnt, dann arbeitet sie sie so lange um, bis der zuständige Lektor nicht mehr anders kann, als sie anzunehmen.

Ihr Weg ist mit vielen Steinen gepflastert. Viele ihrer Schritte muss sie mehrfach gehen. Sie ist kompromisslos und trifft wichtige Entscheidung ohne Kollegen oder Vorgesetzte einzubeziehen, so dass sie immer wieder Konflikte verursacht und Menschen verärgert, von denen sie eigentlich abhängig ist. Doch dann gelingt es ihr mit ihrer großen Entschlossenheit, sie wieder zu überzeugen, selbst dann, wenn schon alles entschieden scheint.

Über die Abendschule macht sie den High-School-Abschluss nach. Auch das Studium findet nach der Arbeit statt, bis eine Erbschaft es ihr ermöglicht, endlich in Vollzeit zu studieren. 1971 promoviert sie in Psychologie. An der Stony Brook University New York macht sie sich mit der Kognitiven Verhaltenstherapie vertraut. 1977 geht sie nach Seattle, wo sie an der University of Washington die Chance auf eine feste Stelle bekommt und trotz ihrer unangepassten Ansätze wider Erwarten auch antreten darf. 1989 wird sie ordentliche Professorin. Immer gilt den hochsuizidalen Menschen ihr wissenschaftliches, ihr persönliches Interesse. Es vergehen noch 22 Jahre, bis sie sich zu ihrer Geschichte bekennt. Ihr Outing trägt sie ausgerechnet im Institute of Living vor.

Als Jugendliche wird Marsha Linehan mit starken Psychopharmaka behandelt. Eine Elektrotherapie hat zur Folge, dass sie Teile ihres Erinnerungsvermögens und die Fähigkeit, Klavier zu spielen, verliert. Als sie ein paar Jahre später in einer Krise telefonisch einen Psychiater erreichen will, wird sie kurz danach gegen ihren Willen von der Polizei in die Psychiatrie gebracht. Ein Suizidversuch, dessen sie beschuldigt wird, ist damals noch eine Straftat.

Ihr Therapiekonzept orientiert sich an den Grundbedürfnissen des menschlichen Lebens

Marsha Linehan hat als Klientin wenig Verständnis erlebt. Sie selbst will ein Therapiekonzept entwickeln, das sich an den Grundbedürfnissen des menschlichen Lebens orientiert. Die Dialektisch-Behaviorale Therapie stellt Klienten und Therapeuten auf Augenhöhe und spricht der Beziehung zwischen beiden eine sehr große Bedeutung zu. Nicht nur der Klient, auch der Therapeut lernt, den Klienten so anzunehmen, wie er ist, ohne Erwartungen, Bewertungen. Und der Klient darf sich beim Therapeuten Unterstützung holen und ihn beispielsweise auch anrufen, wenn er ihn dringend braucht. Aus eigener Erfahrung weiß Marsha Linehan, dass die Dauer eines Telefonats die entscheidenden Minuten sein können, um einen Selbstmord zu verhindern. Der Therapeut wiederum lernt, dass er den Klienten provozieren darf, dass er ihn aus der Reserve locken darf. Es geht darum, echte Beziehungen aufzubauen und auch zu pflegen.

In der Gruppe lernt der Klient Fertigkeiten, die ihm helfen, seine Gefühle zu regulieren. Denn das ist das größte Problem der Menschen, denen sie helfen will: Sie werden von ihren Gefühlen gesteuert, den erhebenden, vor allem aber den belastenden. So kann eine nebenbei geäußerte Kritik das Gefühl auslösen, sich sofort umbringen zu wollen. Viele ihrer Klienten erfahren in der Dialektisch-Behavioralen Therapie das erste Mal Wertschätzung dafür, dass sie so sind, wie sie sind. Und sie lernen das erste Mal, dass sie sich selbst gegenüber nicht ausgeliefert sind. So üben sie, in besonders stressigen Situationen ihr Denken auf das Jetzt und die nächsten paar Minuten zu lenken. Sie lernen, eigene Denk- und Bewertungsmuster zu durchbrechen und zu erkennen, wann Gefühle passend, wann unpassend sind.

Weil sie diese Hölle, wie sie es beschreibt, selbst erlebt hat, weiß sie, wie wichtig praktische Soforthilfe ist: Statt selbstverletzendem Verhalten helfen starke Sinnesreize, etwa den Unterarm mit einem Eiswürfel berühren oder Chillipulver unter der Nase halten, die nicht aushaltbare innere Spannung zu lösen und wieder in der Gegenwart anzukommen. Der Notfallkoffer, der heute in verschiedenen Settings eingesetzt wird und Gegenstände wie Chili oder Ammoniak als starker Geschmacks- oder Geruchsreiz beinhaltet, aber auch dem Klienten vertraute wie ein Lieblingsbuch oder das Foto eines wichtigen Menschen, geht auf Marsha Linehan zurück.

Viele der von ihr entwickelten Techniken wie Stress auszuhalten, den Atem zu regulieren oder die Gedanken zu beruhigen, basieren auf den Prinzipien der radikalen Akzeptanz und der Achtsamkeit. Diese Fähigkeiten können übrigens auch im Leben eines psychisch Gesunden eine große Hilfe darstellen.

Prinzipien Wertschätzung, radikale Akzeptanz und Achtsamkeit

Das stete Einüben dieser Prinzipien macht es überhaupt erst möglich, die Methoden wirksam anwenden zu können. Statt Vorsatz (willfulness) steht die Bereitschaft (willingness) im Mittelpunkt. Das, was gerade ist, wird liebevoll angenommen. Es steht nicht mehr die eigene Vorstellung davon, wie das Leben sein sollte, im Vordergrund. All das ist so elementar, weil man erst einmal lernen muss, das, woran man leidet, wahrzunehmen, auszuhalten und schließlich anzunehmen, bevor man es verändern kann. Diese Dialektik zwischen Akzeptanz und Veränderung gibt der Therapie schließlich ihren Namen.Marsha Linehan erlernt diese Prinzipien unter anderem während ihrer zahlreichen Aufenthalte bei dem Benediktinermönch und Zen-Meister Willigis Jäger. Sie überlegt sogar aus der akademischen Welt auszusteigen und sich nur noch dem Zen zu widmen, bis sie erkennt, dass beide Welten zusammengehören. Achtsamkeit und Akzeptanz haben sich längst im psychotherapeutischen Setting etabliert, auch Werte wie Weisheit und Mitgefühl. Marsha Linehan, die selbst zur Zen-Meisterin ernannt wurde, ist es gelungen, ihr Gelübde einzuhalten: Dank der Dialektisch-Behavioralen Therapie haben schon viele Menschen einen Weg hinaus aus Zerstörung und Dunkelheit gefunden und konnten sich ein Leben aufbauen, das es wert ist gelebt zu werden.

Quelle:

  • Marsha Linehan, Building a life worth living, a memoir, Random house 2020, eine deutsche Übersetzung steht noch aus.