Psychische Gesundheit fördern und erhalten (Seite 2/9)
Resilienz und Vulnerabilität
Grenze zwischen normaler und krankhafter Reaktion individuell und fließend
Jeder Mensch erlebt im Laufe seines Lebens Ereignisse, die ihn belasten und die sein Leben auch langfristig negativ beeinflussen können. Wer dann starke Gefühle von Ärger, Angst, Verzweiflung oder Trauer erlebt, empfindet ganz normal. Wer sich dann aber nicht mehr der eigenen Lebenssituation entsprechend angemessen verhalten kann und bei wem fast alle Lebensbereiche unter dem Eindruck der Belastung stehen, der sollte sich von seiner Umgebung unterstützen lassen oder auch professionelle Hilfe suchen.
Andauernder erhöhter Stress, eine veränderte Lebenssituation oder einschneidende Ereignisse können fast jeden Menschen an die Grenzen seiner Belastbarkeit bringen. Abhängig davon, wie resilient oder vulnerabel jemand ist, kann er besondere Herausforderungen besser oder schlechter meistern.
Der Begriff Resilienz leitet sich vom lateinischen Verb resilire ab, das bedeutet eigentlich so viel wie abprallen. Ursprünglich wurde der Begriff Resilienz in der Physik, insbesondere in der Werkstoffkunde, verwendet. In der Psychologie wird damit die psychische Widerstandsfähigkeit eines Menschen beschrieben. Resilienz ist eine Fähigkeit, flexibel auf Stressoren zu reagieren.
Der Begriff Vulnerabilität kommt von dem lateinischen Wort vulnus, das heißt auf Deutsch Wunde. Er beschreibt in diesem Zusammenhang die Anfälligkeit eines Menschen, an einer psychischen Krankheit zu erkranken.
Wie es wirklich um die eigene Resilienz oder Vulnerabilität steht, erweist sich oft erst im Ernstfall. Es ist sehr wichtig, so für sich zu sorgen, dass die eigenen Bedürfnisse nach Stabilität, Sicherheit oder auch Geborgenheit gestillt werden.
Jeder hat ein Recht darauf, dass es ihm gutgeht. Wenn jemand unter Magenschmerzen oder unter einem Hautausschlag leidet, würde ihn seine Umgebung sehr schnell dazu auffordern, sich professionelle Hilfe zu suchen. Doch auch wenn es um psychische Belastungen oder Störungen geht, ist es wichtig, keine wertvolle Zeit verstreichen zu lassen, sondern sich am besten professionell beraten oder therapieren zu lassen, schon bevor sich eine Erkrankung manifestiert. Eine psychologische Beratung, ein Coaching oder eine Psychotherapie gibt dem Betroffenen die Möglichkeit, die Perspektive zu wechseln, neue Möglichkeiten zu erkennen und Methoden zu lernen, mit den belastenden Themen umzugehen. Manchmal kann dieser begleitete Prozess auch dazu führen, Situationen oder Menschen, die einem nicht guttun, zu verlassen.
Vulnerabilitäts-Stress-Modell: Wenn das Fass überläuft
Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell wird in der klinischen Psychologie eingesetzt, um die psychische Verletzlichkeit eines Menschen zu beschreiben. Im Rahmen dieses Modells wird die individuelle Verletzlichkeit mit einem Fass verglichen, das unterschiedlich schnell zum Überlaufen gebracht werden kann. Das Wasser, das in das Fass läuft, stellt dabei beruflichen und privaten Stress oder auch die sozialen Belastungen dar. Jeder Mensch hat ein unterschiedlich großes Fassungsvermögen und ist deshalb unterschiedlich belastbar.
Menschen können in einer Phase, in der sie besonders mit Sorgen, Herausforderungen oder Rückschlägen belastet sind, über ein geringeres Fassungsvermögen verfügen, ihre Vulnerabilität ist dann erhöht. Bei entsprechender Veranlagung kann das Zusammentreffen verschiedener Stressoren zum Auftreten einer psychischen Störung führen.
Menschen mit einer geringen Vulnerabilität werden erst bei hoher Stressintensität krank, Menschen mit hoher Vulnerabilität bereits bei niedriger. Psychologische oder psychotherapeutische Interventionen helfen den Betroffenen, ihre Vulnerabilität zu verringern.
Resilienz kann man erlernen und stärken
Von der eigenen Resilienz hängt es ab, wie man eine Krise bewältigt oder ob man eine psychische Störung entwickelt.
Resilienz ist eine Fähigkeit, flexibel auf Stressoren zu reagieren. Menschen mit einer hohen Resilienz lassen weniger Stress zu und können sich selbst besser regulieren. Resilienz wirkt sozusagen wie ein Deckel für das Stressfass. Die eigene Resilienz ist jedoch genauso wie die eigene Kondition keine feststehende Größe. Sie kann trainiert werden und abhängig von den einströmenden Belastungen größer oder schwächer sein.
Im Rahmen des Mainzer Resilienzprojekts, einer Langzeitstudie des Deutschen Resilienz-Zentrums, begleiten Forscher junge Menschen für viele Jahre auf ihrem Weg von der Schule über die Ausbildung bis in den Beruf und erfassen ihre psychischen Belastungen und ihre Reaktionen darauf. Der Neurowissenschaftler Raffael Kalisch beschreibt resiliente Menschen als solche, die sich keine Illusionen machen, aber trotzdem glauben, dass es eher gut ausgehen wird und dass sie daran mitwirken können.
Diese Fähigkeit hat beispielsweise Viktor Frankl, einem Wiener Psychiater und Philosophen geholfen, das Konzentrationslager zu überstehen. Er beschreibt in seinem autobiographischen Bericht „... trotzdem Ja zum Leben sagen - Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“, wie er bereits dort wichtige Reden, die er erst lange nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager hielt, in Gedanken verfasste, während er erniedrigende und sehr schwere Arbeiten leisten musste.
Wie Bewertungsstile entstehen, wie sie im Gehirn realisiert sind und auch, wie man sie beeinflussen kann, untersuchen die Mainzer Forscher mit vielen Methoden: Über Jahre hinweg füllen die Probanden alle drei Monate Fragebögen zu ihrem Befinden aus, die Forscher untersuchen Hirnaktivität, Schlafdauer oder auch Stresshormone.
Doch die Forscher um Kalisch sind bereits zu dem Schluss gekommen, dass Resilienz kein Schicksal ist, dem man nicht entrinnen kann. Im Gegenteil, die Art und Weise, wie man das, was um einen herum geschieht, bewertet, ist entscheidend. Man kann einen lebensfreundlicheren und funktionaleren Bewertungsstil erlernen. Aber für ein erfolgreiches Umlernen ist Motivation der erste Schritt und der zweite, dass man sich auf einen langfristigen Prozess einlässt. Professionell dabei begleitet zu werden, kann helfen, den Prozess überhaupt in Gang zu setzen und ihn dann vor allem auch aufrechtzuerhalten.
Modell der sieben Säulen der Resilienz
Was Resilienz ausmacht, ist im Grunde ganz einfach, auch wenn es für viele Menschen schwer zu leben scheint. Nach dem Modell der sieben Säulen der deutschen Psychotherapeutin Ursula Nuber basiert Resilienz auf sieben Elementen:
Optimismus
Die innere Haltung spielt eine wichtige Rolle. Wer dem Leben gegenüber aufgeschlossen ist und davon ausgeht, dass am Ende doch alles gut wird, der geht sehr viel entspannter oder auch wehrhafter mit Stressoren um.
Akzeptanz
Manchmal ist es so einfach: „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist“, singt der verliebte Alfred im Couplet „Trinke, Liebchen, trinke schnell“ im 1. Akt der Operette „Die Fledermaus“ von Johann Strauss. Der frühere Gesangslehrer von Rosalinde von Eisenstein möchte damit ihre Bedenken wegen ihres abwesenden Gatten verscheuchen. Es gelingt ihm, sie stimmt schließlich selig in den Refrain ein.
Akzeptanz meint, hinnehmen zu können, was sich nicht oder noch nicht verändern lässt, ohne zu verbittern. Wer imstande ist, sich zunächst auch mit einer nicht optimalen, aber fürs erste brauchbaren Lösung zufriedenzugeben, geht sicherer und offener durchs Leben.
Gleichzeitig meint Akzeptanz aber auch, sich selbst zu akzeptieren und sich auch emotional mit all den eigenen Fehlern und Schwächen und dem, was man in der Vergangenheit falsch gemacht hat, anzunehmen.
Bindung
Sich sozial gebunden zu wissen, stellt einen hohen Schutzfaktor dar. Denn sich an andere Menschen oder an eine Gruppe binden zu wollen, ist ein menschliches Grundbedürfnis.
Lösungsorientierung
Wer in Lösungen und nicht in Problemen denkt, hat auch unter Stress mehr Zugang zu seinen Ressourcen, vor allem wenn es sich um Lösungsansätze handelt, die positiv formuliert, konkret beschrieben werden können, einfach, überschaubar und realistisch sind. Sie sollten außerdem durch das eigene Tun erreichbar und kontrollierbar sein und in kleinen Schritten gegangen werden können.
Selbstwahrnehmung
Selbstwahrnehmung ist der erste Schritt auf dem Weg zu einer guten und stärkenden Beziehung zu sich selbst. Damit ist die Fähigkeit gemeint, die Signale des Körpers wahrnehmen und einordnen zu können. Eine wache Selbstwahrnehmung ermöglicht es, auf das Feedback des eigenen Systems zu achten und den eigenen Zustand zu verbessern.
Selbstreflexion
Selbstreflexion bedeutet, sich selbst von außen betrachten und die eigenen Reaktionen oder Gefühls- und Denkmuster hinterfragen zu können. Selbstreflexion ist eine Grundvoraussetzung dafür, sich selbst verändern zu können.
Selbstwirksamkeit
Mit Selbstwirksamkeit ist gemeint, dass das eigene Handeln die beabsichtigten Wirkungen und Folgen hat, dass man also dazu in der Lage ist, etwas aktiv im eigenen Leben zu verbessern.
Diese sieben Elemente, also Fähigkeiten, sind nicht schicksalhaft gegeben. Man kann gezielt daran arbeiten, dem Leben gegenüber eine andere Haltung zu entwickeln, sich seiner Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten, bewusster zu werden oder sich in der Selbstwahrnehmung zu üben.