Bindung (Seite 2/9)

Welche Bindungstypen gibt es?

Mary Ainsworth, eine Mitarbeiterin von John Bowlby, entwickelte eine experimentelle Situation, mit der sich unterschiedliche Bindungstypen von Kindern nachweisen lassen: den sogenannten „Fremde-Situations-Test“. Dabei wird das Verhalten des Kindes beobachtet, wenn es kurzzeitig von seiner Mutter getrennt ist und sie anschließend wieder zurückkehrt. Demnach lassen sich ein sicherer Bindungstyp und drei unsichere Bindungstypen unterscheiden. Das Bindungsverhalten von Kindern kann allerdings sehr vielfältig sein und die verschiedenen Bindungstypen können individuell unterschiedlich ausgeprägt sein.

Der sichere Bindungstyp (B-Typ)

Diese Kinder reagieren bei einer zeitweisen Trennung mit Weinen und Schreien. Wenn die Bezugsperson zurückkehrt, suchen sie ihre Nähe, beruhigen sich dann aber schnell wieder. Die Kinder verleihen ihren Gefühlen offen Ausdruck. Es wird angenommen, dass die Bezugspersonen diesen Kindern Sicherheit, Verlässlichkeit und die notwendige Nähe gegeben haben. Als Erwachsene haben die Kinder ein gutes Selbstwertgefühl, sind empathisch und haben eine positive Sicht von sich selbst und anderen Menschen. Es fällt ihnen leicht, Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen und ihnen emotional nahezukommen. Sie fühlen sich wohl in nahen, verlässlichen Beziehungen und zugleich autonom, so dass sie kein Problem damit haben, zeitweise allein zu sein.

Unsichere Bindungstypen

Unsicher-vermeidender Bindungstyp (A-Typ)

Diese Kinder zeigen ihren Wunsch nach Nähe und ihren Schmerz über fehlende Nähe oder mangelnde Verlässlichkeit nicht. Wenn die Bezugsperson nach der Trennung zurückkehrt, ignorieren sie sie und verhalten sich scheinbar unabhängig. Durch ihre Erfahrungen nehmen die Kinder an, dass ihre Bezugspersonen nicht verlässlich verfügbar sind und auf ihre Bedürfnisse nicht eingehen. Es wird vermutet, dass diese Kinder keine liebevollen und verlässlichen Bezugspersonen hatten. Als Erwachsene haben sie Probleme mit Nähe und lassen andere nicht nah an sich herankommen. Sie haben ein großes Bedürfnis nach Unabhängigkeit und verlassen sich lieber auf sich selbst als auf andere.

Unsicher-ambivalenter Bindungstyp

Diese Kinder schreien und weinen bei einer vorübergehenden Trennung. Wenn die Bezugsperson zurückkommt, sind sie kaum zu beruhigen und verhalten sich widersprüchlich: Sie klammern sich an die Bezugsperson und reagieren gleichzeitig aggressiv oder wehren jede Zuwendung ab. Sie wirken wie hin- und hergerissen zwischen ihrem Bedürfnis nach Nähe und gleichzeitig Wut auf die Bezugsperson. Man nimmt an, dass diese Kinder Bezugspersonen hatten, die sich nicht verlässlich und vorhersagbar verhalten. Als Erwachsene verhalten sich die Betroffenen ambivalent: Einerseits wünschen sie sich intensive Nähe, andererseits flüchten sie möglicherweise im nächsten Moment davor.

Desorganisierter Bindungstyp

Dieser Bindungstyp tritt bei Kindern auf, die schwere Vernachlässigung erlebt haben oder misshandelt oder sexuell missbraucht wurden. Die Kinder wissen nicht, wie sie sich ihren nahen Bezugspersonen gegenüber verhalten sollen. Sie sind häufig traumatisiert und zeigen auffällige und bizarre Verhaltensweisen: Sie drehen sich zum Beispiel im Kreis, schaukeln hin und her oder erstarren. Die Kinder brauchen die Bezugsperson zum Schutz und für ihre Versorgung – gleichzeitig ist diese für sie eine Bedrohung. Es kann auch sein, dass die nahe Bezugsperson selbst traumatisiert ist oder an einer psychischen Erkrankung leidet. Sie kann daher dem Kind keinen Schutz bieten und überträgt ihre eigenen Ängste auf das Kind.

Als Erwachsene verhalten sich diese Kinder gegenüber anderen Menschen oft wenig zuverlässig und berechenbar. Sie wünschen sich einerseits nahe Beziehungen, finden es aber schwierig, anderen voll zu vertrauen. Sie fürchten, verletzt zu werden, wenn sie zu große Nähe zulassen.

Zusammenhänge mit späterem Bindungsverhalten

Nach Bowlby entwickelt das Kind durch die frühen Bindungserfahrungen bestimmte Erwartungen gegenüber zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese prägen sein späteres Verhalten in Beziehungen. Tatsächlich haben Studien deutliche Zusammenhänge zwischen dem frühkindlichen Bindungsverhalten und dem späteren Bindungsverhalten bei älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gezeigt – zum Beispiel in Partnerschaften. Weiterhin wurden deutliche Zusammenhänge zwischen dem Bindungstyp der Eltern und dem späteren Bindungstyp der Kinder nachgewiesen.

Darüber hinaus gibt es deutliche Zusammenhänge zwischen einer sicheren Bindung und psychischer Stabilität im späteren Leben sowie zwischen unsicheren Bindungstypen und psychischen Beeinträchtigungen im späteren Leben.