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Ungünstiges Bindungsverhalten und Bindungsstörung bei Kindern
Rund 25 Prozent der Kinder haben ein ungünstiges Bindungsverhalten
Untersuchungen haben gezeigt, dass 60 bis 70 Prozent der Kinder eine sichere Bindung und jeweils 10 bis 15 Prozent eine unsicher-vermeidende oder unsicher-ambivalente Bindung haben. Bei diesen beiden Bindungsstilen handelt es sich um ungünstiges Bindungsverhalten, aber nicht um eine Bindungsstörung. Eine desorganisierte Bindung ließ sich bei fünf bis zehn Prozent der Kinder nachweisen. Sie gilt als Risikofaktor für eine ungünstige Entwicklung der Kinder und spätere psychische Störungen.
Gestörtes oder ungünstiges Bindungsverhalten
Bindungsforscher wie der Kinderpsychiater Karl-Heinz Brisch unterscheiden verschiedene Arten von gestörtem Bindungsverhalten bei Kindern. Dazu gehören:
- Übersteigertes Bindungsverhalten: Die Kinder klammern sich stark an ihre Bezugsperson.
- Gehemmtes Bindungsverhalten: Die Kinder passen sich übermäßig an ihre Bezugspersonen an.
- Aggressives Bindungsverhalten: Die Kinder verhalten sich ihren Bezugspersonen gegenüber verbal oder körperlich aggressiv, um ihrem Wunsch nach Nähe Ausdruck zu geben.
- Undifferenziertes Bindungsverhalten: Die Kinder unterscheiden nicht zwischen vertrauten und fremden Bezugspersonen und verhalten sich ihnen gegenüber nahezu gleich.
- Bindungsverhalten mit Rollenumkehr: Das Kind kümmert sich um seine Bezugspersonen und übernimmt Verantwortung für sie. Das kann der Fall sein, wenn eine Bezugsperson psychisch krank oder hilflos ist.
- Fehlendes Bindungsverhalten: Diese Kinder zeigen gar kein Bindungsverhalten.
Bindungsstörungen
Bei einer Bindungsstörung zeigen sich stabile, ungünstige Verhaltensmuster in Beziehungen. Sie entstehen meist in der Kindheit und Jugend und können bis im Erwachsenenalter anhalten. Eine Bindungsstörung führt zu deutlichem Leiden und Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen.
Welche Arten der Bindungsstörungen gibt es bei Kindern?
Die medizinischen Diagnose-Systeme, die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD) und das Diagnostische und Statistische Manual mentaler Erkrankungen (DSM), unterscheiden mehrere Arten von Bindungsstörungen. Diese stimmen nicht unbedingt mit dem überein, was in der Bindungstheorie beschrieben wird.
In der ICD-10 werden folgende Bindungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen unterschieden:
- Emotionale Störung mit Trennungsangst
- Reaktive Bindungsstörungen
Ursachen
Nach Bowlby entstehen Bindungsstörungen durch eine längere Trennung des Kindes von seinen nahen Bezugspersonen – mindestens für zwei Monate. Auch wiederholte Beziehungsabbrüche zu nahen Bezugspersonen können zu einer Bindungsstörung beitragen.
Inzwischen gehen Fachleute davon aus, dass Bindungsstörungen durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren entstehen. Dabei können Umwelteinflüsse, genetische Merkmale und typische Merkmale einer Person, etwa ihre Persönlichkeit und ihre emotionalen Reaktionen, eine Rolle spielen.
Experten nehmen an, dass negative Erfahrungen in der frühen Kindheit eine wichtige Rolle dabei spielen, dass eine Bindungsstörung entsteht. Dazu gehören:
ausgeprägte negative Erfahrungen wie Misshandlung, Vernachlässigung oder sexueller Missbrauch
Ablehnung, Gefühlskälte, Demütigung, mangelnde Liebe oder mangelnde Unterstützung der Kinder durch ihre Bezugspersonen
- ständige Konflikte in der Familie
- Alkohol- oder Drogenmissbrauch oder eine psychische Erkrankung bei einer Bezugsperson
- Überbehütung oder sehr enger Kontakt der Bezugspersonen zum Kind: Dies kann dazu beitragen, dass das Kind bei einer Trennung oder weniger Kontakt zur Bezugsperson Trennungsangst erlebt.
Studien haben gezeigt, dass Bindungsstörungen in Familien mit geringerem Bildungsniveau häufiger vorkommen, weil es dort häufiger zu Gewalt, Vernachlässigung oder Drogen- oder Alkoholmissbrauch der Eltern kommt.
Weiterhin spielt das eigene Bindungsverhalten der Eltern, ihr Erziehungsstil und ihr Bindungsverhalten gegenüber ihren Kindern eine Rolle.
Darüber hinaus können negative Erlebnisse im späteren Leben, etwa Trennungen oder der Verlust eines nahestehenden Menschen, dazu beitragen, dass eine Bindungsstörung entsteht. Es kann sein, dass die Betroffenen die Trennung oder den Verlust nicht richtig verarbeitet haben und dadurch eine große Angst entwickeln, wieder jemanden zu verlieren.
Ein wichtiger Faktor, der zu Bindungsstörungen beitragen kann, ist ein geringes Selbstwertgefühl. Dies kann dazu führen, dass jemand ständig an der Verlässlichkeit von Bezugspersonen, aber auch an sich selbst und seinen eigenen Gefühlen zweifelt.
Diagnose
Bindungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen
Um Bindungsstörungen bei Kindern zu diagnostizieren, kann das Bindungsverhalten des Kindes in einer experimentellen Situation beobachtet und auf Video aufgezeichnet werden. Ähnlich wie beim „Fremde-Situations-Test“ wird beobachtet, wie das Kind bei einer Trennung von einer nahen Bezugsperson und bei ihrer Rückkehr reagiert. Weiterhin kann das Verhalten des Kindes beim Spielen beobachtet werden. Eltern, Lehrende und weitere Bezugspersonen können mit Fragebögen befragt werden.
Bei einer reaktiven Bindungsstörung und einer Bindungsstörung mit Enthemmung ist es wichtig, andere Erkrankungen auszuschließen, bei denen ähnliche Symptome auftreten können. Dazu gehören autistische Störungen, eine geistige Behinderung oder eine schizophrene Störung. Es wird auch überprüft, ob die Kinder Störungen bei der Sprech- und Sprachentwicklung und der Bewegungsfähigkeit (Motorik) haben und wie ihre Intelligenz ausgeprägt ist. Bei Kindern mit Bindungsstörungen sind Sprachfähigkeit und Intelligenz nicht beeinträchtigt, während sie etwa bei Kindern mit autistischen Störungen häufiger beeinträchtigt sein können.
Psychotherapie
Bindungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen
Bei der Behandlung von Bindungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen ist es sehr wichtig, ein stabiles, förderndes Umfeld zu schaffen. Das Kind sollte eine liebevolle, verlässliche Bindung zu mindestens einer Bezugsperson aufbauen können. Das können die Eltern, aber auch andere Familienmitglieder, Pflegeeltern oder Erzieher:innen sein. Dadurch lernt das Kind allmählich, Vertrauen aufzubauen. Studien haben gezeigt, dass längerfristige stabile Bindungen das Bindungsverhalten des Kindes günstig beeinflussen und das Risiko psychischer Erkrankungen verringern können.
Wichtig ist auch eine intensive Erziehungsberatung und Unterstützung der Eltern. Denn den Bezugspersonen fällt es oft schwer, das schwierige, oft widersprüchliche Verhalten der Kinder richtig zu interpretieren. So kann es sein, dass ein Kind sich zurückzieht, obwohl es sich im Grunde Nähe und Zuneigung wünscht. Mit fachlicher Unterstützung können die Bezugspersonen lernen, die Bedürfnisse des Kindes empathisch und feinfühlig wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren. Dadurch können sie ihrem Kind die Nähe, Zuneigung und Verlässlichkeit geben, die es braucht.
Leidet das Kind unter weiteren psychischen Störungen, etwa einer Angststörung, einer Depression oder einer Störung der Impulskontrolle, sollten sie in der Psychotherapie mitbehandelt werden.