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Bindungsstörung und Bindungsangst bei Erwachsenen

Problematische Beziehungsmuster und Bindungsmuster

Eine Diagnose „Bindungsstörung“ oder „Bindungsangst“ gibt es in den medizinischen Diagnosesystemen nicht. Dagegen sprechen Fachleute von problematischen Beziehungs- und Bindungsmustern. Sie lassen sich häufig bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen beobachten, können aber auch bei anderen Personen, vor allem bei Menschen mit psychischen Erkrankungen vorliegen.

Menschen mit einer Borderline- Persönlichkeitsstörung (emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung) neigen zum Beispiel zu wechselnden Gefühlen und wechselhaftem Verhalten in Beziehungen. Menschen mit einer abhängigen Persönlichkeitsstörung neigen zu Abhängigkeit von ihren Bezugspersonen. Und Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung verhalten sich in Beziehungen wenig einfühlsam und verbindlich – ihnen geht es vor allem um die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse.

Problematische Beziehungs- und Bindungsmuster sind den Betroffenen oft nicht bewusst. Auch in der psychotherapeutischen oder psychiatrischen Versorgung werden sie bisher wenig berücksichtigt. Wichtig ist aber, sie bei der Diagnostik psychischer Erkrankungen ebenfalls zu berücksichtigen. Dann können sie auch bei einer anschließenden Behandlung, zum Beispiel in einer Psychotherapie, angemessen behandelt werden.

Bindungsstörung in der Ratgeberliteratur

In psychologischen Ratgebern oder auf Internetseiten findet man häufig den Begriff „Bindungsstörung“. Darunter wird verstanden, dass jemand sich nur schwer auf nahe zwischenmenschliche Beziehungen oder Partnerbeziehungen einlassen kann. Die Betroffenen gehen entweder gar keine Beziehungen ein, haben problematische Partnerbeziehungen oder Beziehungen, die immer wieder scheitern. Sie wünschen sich eine befriedigende Partnerbeziehung oder enge Bindungen zu anderen Menschen und sehnen sich sogar danach – können jedoch keine solchen Beziehungen finden oder aufbauen. Typisch ist, dass sie vermeintlich nicht den passenden Partner finden, nur oberflächliche, wechselnde Sex- oder Liebesbeziehungen eingehen und Beziehungen schnell wieder beenden. Oft haben sie hohe Ansprüche oder ganz bestimmte Vorstellungen von ihrem Partner oder ihrer Partnerin.

Bindungsangst in der Ratgeberliteratur

Ebenfalls ist in psychologischen Ratgebern oder auf Internetseiten häufig von „Bindungsangst“ die Rede. Darunter wird die Angst verstanden, nahe, verlässliche und dauerhafte Bindungen zu anderen Menschen einzugehen. Es wird angenommen, dass es den Betroffenen schwerfällt, Vertrauen zu fassen oder tiefergehende Gefühle zuzulassen – und zwar, weil sie im Grunde Angst davor haben, enttäuscht oder verlassen zu werden. Insofern ist Bindungsangst eine andere Form der Verlust- oder Trennungsangst. Häufig vermeiden die Betroffenen es, Gefühle zu zeigen, lassen wenig Nähe zu oder ziehen sich bei Problemen schnell wieder zurück. Typisch sind auch zwiespältige, wechselnde Gefühle – auf der einen Seite ein starker Wunsch nach Nähe, Liebe und Fürsorge, auf der anderen Seite schnell das Gefühl, eingeengt zu sein und fliehen zu wollen. Häufig scheuen die Betroffenen auch die Selbstverpflichtung und das Engagement, die mit einer Partnerbeziehung verbunden sind. Im Grunde wünschen sie sich aber eine befriedigende Beziehung oder enge Bindungen zu anderen Menschen.

Sandra F., 27 Jahre, leidet unter Bindungsangst

Wie viele andere wünscht Sandra F., 27 Jahre, sich eine langfristige, glückliche Paarbeziehung. Jemanden kennenzulernen, fällt ihr nicht schwer. Häufig findet sie aber vor allem Männer anziehend, die wenig Interesse an ihr zeigen oder „nicht zu haben“ sind, weil sie verheiratet sind oder keine feste Beziehung möchten.

Lernt sie jemanden kennen, der sich sehr für sie interessiert oder wird eine Beziehung näher und verbindlicher, fühlt sie sich schnell eingeengt und zieht sich wieder zurück. Nach einer gewissen Zeit sieht sie oft eher die Fehler ihres Partners und kommt zu dem Schluss, nicht den „Richtigen“ gefunden zu haben. Häufig beendet sie eine Beziehung nach ein paar Monaten wieder.

Zwischendrin hat sie eher unverbindliche, kurz dauernde Flirts und Affären. Gleichzeitig sehnt sie sich nach einer festen Beziehung und leidet darunter, diese nicht zu finden.

Abgrenzung

Eine wie oben beschriebene Bindungsstörung oder Bindungsangst kann zu deutlichen psychischen Belastungen führen. Wichtig ist: Von einer psychischen Störung spricht man, wenn die Probleme oder Einschränkungen stark ausgeprägt sind und über einen längeren Zeitraum bestehen. Die Betroffenen leiden stark darunter und ihre Beziehungen zu anderen Menschen, andere Lebensbereiche und die Lebensqualität sind deutlich beeinträchtigt. Ist dies der Fall, sollten sich die Betroffenen zeitnah professionelle Unterstützung, etwa in Form einer Psychotherapie suchen.

Auf der anderen Seite kann es viele Gründe geben, warum jemand keine nahen Beziehungen oder keine langfristige Partnerschaft eingeht. So entscheiden sich manche Menschen bewusst dafür, als Single zu leben. Manche haben einen großen Wunsch nach Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung oder bestimmte Vorstellungen, wie sie leben möchten. Andere haben kein Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Sexualität und gehen daher keine Partnerschaft ein. Manche haben das Gefühl, keine feste Partnerschaft zu brauchen, weil sie auch so ein befriedigendes Leben haben. Sie haben zum Beispiel viele Freundschaften, Hobbies oder berufliche Möglichkeiten oder sind mit eher unverbindlichen Sex- oder Liebesbeziehungen zufrieden. Leiden die Betroffenen nicht unter der Situation, würde man nicht von einer Bindungsstörung oder Bindungsangst sprechen.

Erklärungsansätze für Bindungsangst

Einige Autoren nehmen an, dass Menschen mit Bindungsangst in ihrer Kindheit Nähe und Trennungen im Wechsel erlebt haben. Dadurch hätten sie starke Angst davor entwickelt, von nahen Bezugspersonen emotional abhängig zu sein und durch einen Verlust verletzt zu werden. Aus diesem Grund würden sie ihren Wunsch nach Nähe und emotionaler Bindung verdrängen und keine echte Nähe und Bindung zulassen. Dies entspricht etwa dem unsicher-vermeidenden Bindungstyp bei Kindern.

Eine weitere Annahme ist, dass die Betroffenen eine narzisstische Störung haben. Als Ursache nehmen die Autoren an, dass sie als Kinder entweder zu wenig oder zu viel emotionale Zuwendung erhalten hätten. Dadurch hätten sie einerseits eine große Sehnsucht nach Bindung, Liebe und Nähe, andererseits starke Angst davor, emotional abhängig zu sein und in ihrer Selbstbestimmung beeinträchtigt zu werden. Dieser Konflikt sei den Betroffenen meist nicht bewusst. Sie würden enge Bindungen schnell als Einengung empfinden und sie daher meiden.