Bindung (Seite 4/9)

Arten von Bindungsproblemen und -störungen im Kindesalter

Emotionale Störung mit Trennungsangst und Bindungsstörungen im Kindesalter

Bei kleineren Kindern ist eine gewisse Angst vor einer Trennung von wichtigen Bezugspersonen ganz normal. Diese Angst ist auch sinnvoll, weil kleine Kinder auf ihre Bezugspersonen angewiesen sind, um zu überleben. Zwischen dem 7. und 18. Monat gilt Trennungsangst als normal. Aber auch bis zum Alter von drei Jahren ist sie nicht ungewöhnlich.

Die emotionale Störung mit Trennungsangst

Eine emotionale Störung mit Trennungsangst ist nicht so sehr eine eigenständige Störung, sondern eher eine Verstärkung der normalen Trennungsangst bei Kindern. Sie wird diagnostiziert, wenn Kinder über das typische Alter für Trennungsangst hinaus (also etwa ab drei Jahren) eine starke, anhaltende Angst haben, von Menschen, zu denen sie eine enge Beziehung haben, getrennt zu werden, das Haus zu verlassen oder in die Schule zu gehen. Die Angst besteht seit mindestens einem Monat, belastet das Kind erheblich und beeinträchtigt die sozialen Beziehungen oder andere wichtige Funktionsbereiche deutlich.

Typische Symptome sind:

  • Das Kind sorgt sich darum, dass es von einer nahestehenden Bezugsperson getrennt werden könnte, dass ihr etwas zustoßen könnte oder dass sie sterben könnte.
  • Das Kind weigert sich aus Angst vor einer Trennung, in den Kindergarten oder in die Schule zu gehen.
  • Das Kind weigert sich, zu schlafen, wenn die Bezugsperson nicht dabei oder in der Nähe ist. Auch die Angst vor dem Einschlafen kann eine Art von Trennungsangst sein.
  • Das Kind entwickelt psychosomatische Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen, Übelkeit oder Erbrechen, sobald es von seiner Bezugsperson getrennt ist.
  • Das Kind reagiert während und nach der Trennung mit Angst, Weinen, Schreien, Anklammern, Apathie oder starkem Rückzug. Dieses Verhalten kann auch auftreten, wenn das Kind eine Trennung fürchtet. Solange eine vertraute Bezugsperson anwesend ist, verhalten sich die Kinder ganz normal.

Mögliche Ursachen

Auslöser der Störung können belastende Lebensereignisse wie der Tod eines nahestehenden Menschen oder eines Haustiers sein. Es kann auch sein, dass eine sehr enge Bindung des Kindes an seine Mutter oder eine andere wichtige Bezugsperson zu Trennungsangst führt. Auch wenn eine nahe Bezugsperson sehr ängstlich ist und das Kind eng an sich bindet, kann das eine Trennungsangst begünstigen.

Therapie bei emotionaler Störung mit Trennungsangst

Bei dieser Störung ist eine Psychotherapie sinnvoll, die die ganze Familie einbezieht – etwa eine Verhaltenstherapie oder eine systemische Therapie. Bei kleineren Kindern kann eine Spieltherapie hilfreich sein, bei der die erwachsenen Bezugspersonen einbezogen werden.
Ziel der Therapie ist, dass das Kind die starke Angst vor Trennungen überwindet und wieder in den Kindergarten oder in die Schule gehen kann. Wichtig ist, dass das Kind mehr Selbstvertrauen gewinnt, neue, positive Erfahrungen machen kann und neue Kompetenzen entwickelt, die seine Selbstständigkeit stärken.

So können die Kinder lernen, sich den Herausforderungen einer Trennung zu stellen. Zum Beispiel können sie Erledigungen außerhalb ihres Zuhauses übernehmen oder bei Freunden übernachten. Dadurch können sie so die Erfahrung machen, dass sie gut mit der Trennung zurechtkommen und nichts Schlimmes passiert. Mit der Zeit entwickeln die Kinder so mehr Selbstvertrauen und haben weniger das Gefühl, auf ihre Bezugspersonen angewiesen zu sein.
Die Bezugspersonen lernen in der Therapie, Abschiedsszenen kurz zu halten, damit ihr Kind vorübergehende Trennungen mit der Zeit besser akzeptiert. Dabei sollten auch an verlängerten Wochenenden oder in den Ferien vorübergehende Abschiede eingeplant werden. Hilfreich kann es sein, wenn das Kind eine enge Beziehung zu einem Erwachsenen außerhalb der Familie – etwa im Kindergarten oder in der Schule – aufbauen kann.

Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters und Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung

Bei beiden Störungen zeigen die Kinder deutliche Auffälligkeiten in ihren sozialen Beziehungen in verschiedenen Situationen. Es wird angenommen, dass beide Störungen mit schwerer emotionaler und / oder körperlicher Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch der Kinder durch ihre Bezugspersonen zusammenhängen.
Beide Störungen sind eher selten: Es wird geschätzt, dass sie bei weniger als einem Prozent der Kinder auftreten. Allerdings kommen sie bei Kindern, die in Pflegefamilien oder Heimen aufwachsen, deutlich häufiger vor. Und bei Kindern, die Misshandlung erlebt haben, wird die Häufigkeit beider Störungen auf etwa 40 Prozent geschätzt.

Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters

Diese Störung tritt in den ersten fünf Lebensjahren auf. Die Kinder zeigen anhaltende Auffälligkeiten in ihren sozialen Beziehungen mit einer Mischung aus Annäherung und Vermeidung. Sie machen einen unglücklichen Eindruck, verhalten sich ängstlich und übervorsichtig oder wirken apathisch und wenig emotional ansprechbar. Sie haben nur eingeschränkte Kontakte zu gleichaltrigen Kindern, sind in ihrem Spielverhalten eingeschränkt und verhalten sich aggressiv gegenüber anderen oder sich selbst.

Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung

Diese Störung tritt ab dem fünften Lebensjahr auf und entwickelt sich oft aus der reaktiven Bindungsstörung des Kindesalters. Die Kinder verhalten sich nahen Bezugspersonen und Fremden gegenüber wahllos freundlich und distanzlos und suchen ihre Aufmerksamkeit. Ähnlich wie Kinder mit einer reaktiven Bindungsstörung haben sie nur eingeschränkte Kontakte zu gleichaltrigen Kindern, sind in ihrem Spielverhalten eingeschränkt und verhalten sich aggressiv gegenüber anderen oder sich selbst.

Mögliche Ursachen für beide Störungsbilder

  • schädigende Einflüsse während der Schwangerschaft (zum Beispiel bei einem Alkohol- oder Drogenmissbrauch der Mutter)
  • eine Frühgeburt
  • stark ausgeprägte Misshandlung, sexueller Missbrauch oder Vernachlässigung in den ersten Lebensjahren
  • emotional gleichgültige Bezugspersonen (zum Beispiel, wenn sie unter einer Depression oder anderen psychischen Erkrankungen leiden)
  • Trennung von wichtigen Bezugspersonen oder der Tod naher Bezugspersonen, etwa von Mutter oder Vater
  • ein ständiger Wechsel von Bezugspersonen
  • belastende medizinische Eingriffe, häufige Krankenhausaufenthalte oder Aufenthalt in Heimen

Therapie bei reaktiver Bindungsstörung und Bindungsstörung mit Enthemmung

Auch bei einer reaktiven Bindungsstörung oder einer Bindungsstörung mit Enthemmung kann eine Psychotherapie hilfreich sein. Bei kleineren Kindern kann auch eine Spieltherapie in Frage kommen. Sind die Störungen schwerer ausgeprägt, ist aber oft keine Psychotherapie möglich. Dann kann statt einer ambulanten eine tagesklinische oder stationäre kinderpsychiatrische Behandlung notwendig sein. In manchen Fällen kann es auch notwendig sein, dass die Kinder Medikamente nehmen.

Kann in der Herkunftsfamilie kein stabiles, förderndes Umfeld geschaffen werden, kann es notwendig sein, das Kind aus der Familie herauszunehmen. Dies ist auch der Fall, wenn ein Kind in seiner Familie anhaltend vernachlässigt, misshandelt oder sexuell missbraucht wird. Dann sollte ein stabiles, förderndes Umfeld mit einer festen Bezugsperson in einer Pflegefamilie oder in einer stationären Jugendhilfe-Einrichtung geschaffen werden.

Anmerkung

Die von Fachgesellschaften herausgegebene Leitlinie zur reaktiven Bindungsstörung des Kindesalters und zur Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung stammt aus dem Jahr 2007 und ist deutlich veraltet. Derzeit ist eine aktualisierte Version in Arbeit, die aktuelle Forschungsergebnisse und neue Entwicklungen bei Diagnostik und Therapie einbeziehen soll. Sie soll im September 2025 fertig gestellt werden.