Dissoziative Störungen (Seite 5/6)

Psychotherapie bei Behandlung erste Wahl

Bei dissoziativen Störungen ist eine Psychotherapie die Behandlung der ersten Wahl. Oft ist auch eine multimodale Behandlung sinnvoll, bei der Psychotherapie, medikamentöse Behandlung und eventuell weitere Verfahren wie Bewegungs-, Kunst- oder Musiktherapie miteinander kombiniert werden. Je nach Bedarf können auch der Partner oder andere Familienangehörige in die Behandlung einbezogen werden (Paar- und Familientherapie) oder Gruppentrainings, zum Beispiel zum Einüben sozialer Fertigkeiten, durchgeführt werden. Obwohl dissoziative Störungen oft schwer ausgeprägte Erkrankungen sind, ist die Prognose bei einer speziell auf die Störung zugeschnittenen Behandlung günstig.

Psychotherapie

Da man davon ausgeht, dass dissoziative Störungen meist durch traumatische Erfahrungen ausgelöst wurden, geht es in der Psychotherapie vor allem um die Bewältigung traumabezogener Symptome. Das Vorgehen ähnelt daher dem Vorgehen bei der Therapie der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Die Therapie setzt sich aus mehreren Phasen zusammen: Einer Stabilisierungsphase, der Bearbeitung der traumatischen Erlebnisse (Expositionsphase) und einer abschließenden Integrations- und Neuorientierungsphase.

Je nach Schweregrad der Erkrankung kann die Therapie ambulant, teilstationär oder stationär stattfinden. Eine ambulante Therapie kann sich auch mit kürzeren stationären Aufenthalten abwechseln, zum Beispiel in Krisenphasen oder während der eher belastenden Phase der Traumabearbeitung.

Stabilisierungsphase

In dieser Phase der Therapie geht es darum, die Betroffenen psychisch zu stabilisieren, ihnen zu helfen, die Symptome zu kontrollieren bzw. zu reduzieren und ihre Fähigkeiten zur Krisenbewältigung zu verbessern.

Zu Beginn der Therapie arbeitet die Therapeutin darauf hin, ein Vertrauensverhältnis zur Patientin aufzubauen und ihr Sicherheit zu vermitteln. Gleichzeitig informiert die Therapeutin sie ausführlich über das Störungsbild und die Faktoren, die zur Entstehung der Erkrankung beitragen (Psychoedukation). Dabei erklärt sie der Patientin auch das Vorgehen in der Therapie und klärt sie darüber auf, dass das Wiedererleben traumatischer Erlebnisse Teil der Therapie ist.

In dieser Therapiephase lernt die Patientin auch, ihre Gefühle bewusster wahrzunehmen, ihren Alltag besser zu bewältigen und besser für sich selbst zu sorgen. Es werden Strategien zur Stressbewältiung eingeübt und die Stärken und Ressourcen der Patientin gezielt gefördert.

Außerdem lernt die Patientin, Dissoziationen frühzeitig zu erkennen und sie zu kontrollieren bzw. zu stoppen. Dabei werden auch Alternativen zur „Flucht“ in dissoziative Zustände eingeübt. Um das Abgleiten in einen dissoziativen Zustand zu verhindern oder wieder aus diesem herauszukommen, kann die Patientin lernen, Atemübungen, Bewegung (zum Beispiel Herumlaufen, Springen) oder starke Sinnesreize (zum Beispiel starke Gerüche oder laute Geräusche) einzusetzen.

Wichtig ist auch, dass die Therapeutin prüft, ob aktuell weitere Traumatisierungen stattfinden – etwa, wenn noch Kontakt zu einem Täter besteht. In diesem Fall ist nur eine stabilisierende Behandlung möglich. Es sollte keine Trauma-Konfrontation durchgeführt werden. Gleichzeitig überlegt die Therapeutin zusammen mit der Patientin, wie solche traumatisierenden oder belastenden Faktoren reduziert oder ganz verhindert werden können.

Expositionsphase / Traumabearbeitung

In dieser Phase arbeitet die Therapeutin darauf hin, dass der Patientin die bisher nicht bewussten Erinnerungen wieder bewusst werden und sie diese verarbeiten kann. Zunächst werden die traumatischen Erfahrungen langsam und schrittweise erfragt. Anschließend soll die Patientin die mit dem Trauma verbundenen Erinnerungen, Gefühle und Bilder Schritt für Schritt wiedererleben, um sie zu verarbeiten (Exposition). Dazu können verschiedene, schonende Verfahren eingesetzt werden, die vermeiden sollen, dass die Patienten überfordert werden oder erneut Dissoziationen erleben. Typische Verfahren sind zum Beispiel die Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR), die Bildschirmtechnik, bei der sich die Patienten das Traumageschehen wie auf einem Bildschirm vorstellen, oder die narrative Konfrontation. Mithilfe dieser Techniken sollen die bisher abgetrennten Erfahrungen wieder in die übrigen Lebenserinnerungen integriert werden. Gleichzeitig erhält die Patientin so Distanz und Kontrolle über die belastenden Erinnerungen.

In manchen Fällen wird auch Hypnose eingesetzt, um verloren gegangene Erinnerungen wieder zugänglich zu machen.

Integrations- und Neuorientierungsphase

In der abschließenden Phase der Therapie werden die traumatischen Erfahrungen weiter verarbeitet und in das übrige Leben integriert. Gleichzeitig lernen die Patienten, wieder in ihren Alltag zurückzufinden und ihr Leben wieder alleine zu bewältigen. In dieser Phase geht es auch darum, weitere, bisher nicht bearbeitete Belastungen oder Konflikte zu bearbeiten.

Besonderheiten bei einzelnen dissoziativen Störungen

Bei einer dissoziativen Identitätsstörung versucht die Therapeutin im Lauf der Therapie, die verschiedenen Persönlichkeitsanteile zu einer Gesamtpersönlichkeit zu integrieren – was aber nicht immer vollständig gelingt. In jedem Fall arbeitet die Therapeutin daran, dass die Patientin die verschiedenen Anteile kennenlernt und diese immer mehr miteinander kommunizieren. So erreicht die Patientin nach und nach immer mehr ein Gefühl von Identität.

Bei dissoziativen Störungen, die mit körperlichen Symptomen einhergehen (etwa dissoziativen Bewegungsstörungen, dissoziativen Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen oder dissoziativen Krampfanfällen) gehen die Betroffenen meist davon aus, dass eine körperliche Erkrankung vorliegt. Viele weigern sich zunächst, eine psychische Ursache für die Symptome zu akzeptieren. In diesem Fall vermittelt die Therapeutin der Patientin, dass die Symptome zwar real sind, aber keine körperliche Ursache dahinter steckt. Erst wenn die Patientin dies akzeptiert hat, können die Symptome im Rahmen der Psychotherapie behandelt werden.