Dissoziative Störungen (Seite 2/6)

Formen der dissoziativen Störung

Die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) und das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen (DSM) unterscheiden jeweils etwas andere Krankheitsbilder, die hier zusammenfassend dargestellt werden.

  1. Dissoziative Identitätsstörung (Multiple Persönlichkeitsstörung)
  2. Dissoziative Amnesie
  3. Dissoziative Krampfanfälle
  4. Dissoziative Fugue
  5. Depersonalisations- und Derealisationssyndrom
  6. Dissoziativer Stupor
  7. Dissoziative Bewegungsstörungen
  8. Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen
  9. Trance- und Besessenheitszustände
  10. Ganser-Syndrom

Dissoziative Identitätsstörung (Multiple Persönlichkeitsstörung)

Hierbei handelt es sich um eine schwere Form der dissoziativen Störung. Es treten zwei oder mehr verschiedene, voneinander abgetrennte Zustände der Persönlichkeit auf, die jeweils eigene Gefühle, Charaktereigenschaften, Vorlieben und Erinnerungen haben.

Die unterschiedlichen Persönlichkeitszustände treten im Wechsel auf und wissen meist nichts von den anderen Anteilen. Sind die Betroffenen in einem bestimmten Persönlichkeitszustand, können sie sich nicht erinnern, was ein anderer Persönlichkeitsanteil getan oder erlebt hat.

Es kann auch vorkommen, dass die verschiedenen Persönlichkeitszustände nur teilweise dissoziiert sind. In diesem Fall wissen die verschiedenen Anteile voneinander und können beobachten, was geschieht, wenn gerade ein anderer Anteil die Kontrolle hat – sie können dies jedoch nicht oder nur schwer beeinflussen. In diesem Fall wird meist eine „dissoziative Störung, nicht näher bezeichnet“ diagnostiziert.

Die dissoziative Identitätsstörung beginnt oft schon in der Kindheit. Meist leiden die Betroffenen gleichzeitig an anderen psychischen Störungen, etwa an Depressionen oder Essstörungen. Deshalb, und weil die Betroffenen oft versuchen, die Symptome zu verheimlichen, wird die Erkrankung oft übersehen und meist erst im Erwachsenenalter diagnostiziert.

Die Störung wird in der ICD-10 als „multiple Persönlichkeitsstörung“ bezeichnet und zu den „sonstigen dissoziativen Störungen“ gezählt.

Dissoziative Amnesie

Bei einer dissoziativen Amnesie fehlt dem Betroffenen ganz oder teilweise die Erinnerung an wichtige, aktuelle Ereignisse – meist an belastende oder traumatische Ereignisse wie Unfälle oder Gewalt. Die Amnesie geht dabei über eine normale Vergesslichkeit hinaus – das heißt, sie ist stärker ausgeprägt oder dauert länger an.

Herr G. wird als Überlebender eines Flugzeugunglücks einige Stunden nach seiner Rettung von einer Untersuchungskommission befragt. Er hat das Unglück unverletzt überstanden und sich an der Rettung der anderen Fluggäste beteiligt. In dieser ganzen Zeit war er normal ansprechbar und zeigte keine Anzeichen eines Schocks. Bei der Befragung berichtet er, sich daran zu erinnern, wie er einen bewusstlosen Fahrgast zu einer Seitenluke des Flugzeugs geschleppt und zu anderen Helfern heruntergelassen habe. An andere Ereignisse kann er sich nicht erinnnern – erst wieder daran, dass ihm jemand im Sanitätszelt eine Tasse Tee gereicht hat. Von anderen Helfern wird jedoch berichtet, dass Herr G. nach der ersten Rettungsaktion noch mehrere Passagiere aus dem Flugzeug geborgen hat.*

Dissoziative Krampfanfälle

Bei dieser Störung treten Krampfanfälle mit plötzlichen, krampfartigen Bewegungen auf, die einem epileptischen Anfall ähneln können. Es kommt jedoch nicht zur Bewusstlosigkeit. Stattdessen kann ein stupor- oder trance-ähnlicher Zustand auftreten. Symptome, die bei epileptischen Anfällen vorkommen können, wie Zungenbiss, ein plötzlicher Urinverlust oder Verletzungen durch einen Sturz, treten bei dissoziativen Krampfanfällen jedoch selten auf.

Dissoziative Fugue

Bei einer dissoziativen Fugue (Flucht) verlässt der Betroffene unerwartet seinen gewohnten Lebensbereich, etwa sein Zuhause oder seinen Arbeitsplatz, und begibt sich an einen anderen Ort. Dabei wirkt er nach außen hin normal und kann sich weiter selbst versorgen. Während der Fugue kann er sich ganz oder teilweise nicht mehr an seine Vergangenheit und seine eigene Identität erinnern. In manchen Fällen nehmen die Betroffenen eine neue Identität an – diese ist dann oft geselliger und weniger zurückhaltend als die eigentliche Persönlichkeit. Der Fugue-Zustand kann von einigen Stunden bis zu mehreren Monaten lang anhalten. Hinterher können sich die Betroffenen meist nicht an die Ereignisse während des Fugue-Zustands erinnern.

Eine junge Frau wird bewusstlos und verwahrlost in einem Park gefunden. Als sie aufwacht, weiß sie nicht, wer sie ist und wie sie in den Park gekommen ist. Nach monatelanger Behandlung in einer Klinik stellt sich heraus, dass die 34-Jährige vor ein paar Jahren mit einem Vorgesetzten, der verheiratet war, ein Verhältnis angefangen hatte und mit ihm in eine andere Stadt „durchgebrannt“ war. In dieser Zeit brachen alle Kontakte zu ihrer Familie und zu früheren Freunden ab. Nach der ersten Zeit wurde sie jedoch von ihrem Partner jahrelang wie eine Gefangene im Haus festgehalten und körperlich und seelisch misshandelt – bis ihr schließlich die Flucht gelang. Als sie im Park aufgefunden wird, ist sie im Zustand der Fugue und kann sich weder an die Zeit der Misshandlungen noch an ihr früheres Leben und ihre Herkunftsfamilie erinnern.**

Depersonalisations- und Derealisationssyndrom

Während einer Depersonalisation ist die Selbstwahrnehmung verändert: Die betroffene Person fühlt sich in ihrem eigenen Körper fremd oder fühlt sich von ihrem Selbst lösgelöst und beobachtet sich wie von außen. In diesem Zustand empfindet sie keine emotionalen Reaktionen und hat das Gefühl, ihre Handlungen nicht vollständig kontrollieren zu können. Gleichzeitig reagiert sie aber normal und angemessen auf seine Umwelt.

Bei einer Derealisation wird die Umwelt als unwirklich, fremd oder verändert wahrgenommen. So kann eine bisher neutrale Umgebung dem Betroffenen plötzlich eigenartig unbekannt, seltsam bekannt („Deja-vu“) oder in anderer Weise verändert erscheinen.

Eine vorübergehende Depersonalisation oder Derealisation kommt auch bei Gesunden häufig vor. Außerdem treten die Symptome oft bei anderen psychischen Störungen auf, zum Beispiel bei Panikattacken, Depressionen, Phobien, Zwangsstörungen oder bei einer Schizophrenie. Ein Depersonalisations- und Derealisationssyndrom wird deshalb nur diagnostiziert, wenn die Symptome sehr häufig auftreten oder über lange Zeit anhalten, zu deutlichem Leiden oder Beeinträchtigungen führen und nicht im Rahmen einer anderen psychischen Erkrankung zu erklären sind.

Depersonalisation und Derealisation werden im DSM zu den dissoziativen Störungen gezählt, im ICD-10 zählt das „Depersonalisations- und Derealisationssyndrom“ zu den „anderen neurotischen Störungen“.

Dissoziativer Stupor

Beim dissoziativen Stuper sind die willkürlichen Bewegungen, die Sprache und die normalen Reaktionen auf äußere Reize wie Licht, Geräusche oder Berührungen deutlich vermindert oder fehlen ganz. Die Betroffenen sind vollkommen erstarrt, sprechen nicht, reagieren nicht auf Ansprache und essen und trinken nicht. In diesem Zustand ist es nicht möglich, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Sie sind jedoch nicht bewusstlos, atmen normal, haben eine normale Muskelspannung und können eine aufrechte Körperhaltung einnehmen.

Dissoziative Bewegungsstörungen

Bei dieser Störung kommt es zu einem teilweisen oder vollständigen Verlust der Bewegungsfähigkeit bei einer oder mehreren Gliedmaßen, zu einer einschränkten Sprechfähigkeit oder zu Störungen bei der Koordination von Bewegungen. Zum Beispiel können Zittern (Tremor), Verkrampfungen, Muskelzucken, Gangstörungen, parkinson-ähnliche Symptome oder die Unfähigkeit, alleine zu stehen, auftreten. Die Symptome ähneln oft neurologischen Bewegungsstörungen – es lässt sich jedoch keine organische Ursache nachweisen.

Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen

Bei diesem Störungsbild gehen die sensorischen Empfindungen ganz oder teilweise verloren. So kann die Empfindung der Haut an bestimmten Körperstellen, einem bestimmten Körperteil oder am ganzen Körper fehlen. Oder es kommt zu einem teilweisen oder vollständigen Ausfall des Sehens, Hörens oder des Riechvermögens. Dass jemand überhaupt nicht mehr sehen oder hören kann, kommt jedoch selten vor.

Trance- und Besessenheitszustände

Bei einem dissoziativen Trance-Zustand verändert sich vorübergehend das Bewusstsein, wobei das Gefühl der persönlichen Identität verloren geht. Gleichzeitig ist das Bewusstsein auf die unmittelbare Umgebung oder auf bestimmte Reize in der Umgebung eingeengt. Dabei werden immer wieder dieselben Bewegungen, Haltungen und Sätze wiederholt.

Bei der dissoziativen Besessenheits-Trance nimmt der Betroffene über einen begrenzten Zeitraum eine neue Identität an, die einem Geist oder einer Gottheit zugeschrieben wird. Die Diagnose wird nur gestellt, wenn der Trancezustand außerhalb einer religiös oder kulturell akzeptierten Situation auftritt – zum Beispiel einem religiösen Trance-Ritual, das in vielen Kulturen vorkommt.

Ganser-Syndrom

Bei dieser seltenen Störung reden bzw. antworten die Betroffenen am Inhalt des Gesprächs vorbei. So werden selbst einfache Fragen wie “Was ist die Farbe der Sonne” falsch, zum Beispiel mit “grün” beantwortet. Die Störung wird auch als Pseudodemenz oder Pseudodebilität bezeichnet und tritt häufig bei jüngeren bis mittelalten männlichen Patienten auf. In der ICD-10 wird das Ganser-Syndrom zu den „sonstigen dissoziativen Störungen“ gezählt.

Mischformen

Es können auch Mischformen aus den oben beschriebenen Störungsbildern auftreten.