Neurodiversität und Autismus-Spektrum-Störung

Ein neuer Ansatz: Betroffene als anders und nicht mehr als krank betrachten

11.03.2024 Von Angelika Völkel

Was verbirgt sich hinter Neurodiversität oder Autismus-Spektrum-Störung?

Abweichungen vom Neurotypischen werden als Neurodiversität bezeichnet

Die Autismus-Spektrum-Störung oder Neurodiversität beschreibt eine große Bandbreite an Störungsbildern. Noch vor ein paar Jahren wurden Diagnosen wie Asperger-, Kanner- oder Atypischer Autismus vergeben.

Um den Betroffenen jedoch gerechter zu werden, indem sie deutlich individueller diagnostiziert und behandelt werden können, werden nun alle Abweichungen vom Neurotypischen unter diesem Spektrum zusammengefasst.

Der Begriff Autismus basiert auf den griechischen Wörtern autos für selbst und ismos für Zustand.

Christine P., 27 Jahre, Asperger-Syndrom

Die Diagnose Asperger-Syndrom erhielt Christine P. erst mit 27 Jahren. Für sie war die Diagnose eine große Erleichterung, denn erstmals konnte sie Antworten auf viele Fragen in ihrem Leben finden. Auch der Kontakt mit ihrem Umfeld wurde einfacher, da sich nun viele ihrer Verhaltensweisen, zum Beispiel das sehr penible Beharren auf vereinbarte Uhrzeiten, erklären ließen. Davor legten andere Menschen es oft als bewusste Provokation aus, wenn sie sie nach nur ein paar Minuten Verspätung kritisierte. Dabei war es kein böser Wille, der sie so handeln ließ, sondern vielmehr das starke Bedürfnis nach Struktur, Routine und Ritualen.

Inzwischen richtet sie ihr Leben so ein, dass es nicht nur erträglich, sondern erfüllt ist. Seit der Asperger-Diagnose weiß sie um ihre Auffälligkeiten. Partys und Disco-Besuche etwa bedeuten nur Stress und überfordern sie völlig. Und ohne feste Strukturen könnte sie auch heute ihren Alltag kaum bewältigen.

Sie hat gelernt, ihre Stärken für ihre Arbeit gezielt zu nutzen. Ihr fällt es leicht, bei einer Arbeit zu bleiben, ohne dauernd Pausen mit Kolleg:innen einlegen zu müssen. Ein Nebeneinander mehrerer Tätigkeiten verwirrt sie. Sie kann mehr leisten, wenn sie Aufgaben strukturiert und nacheinander erledigt.

Ebenso ist sie sehr aufmerksam für Details. Für ihr Medizinstudium, für das sie sehr viele Fakten lernen musste, war das sehr hilfreich. Dafür fällt es ihr oft schwer, übergeordnete Zusammenhänge zu erkennen. Deshalb liest sie keine Romane und schaut keine Filme, in denen viele Personen auftreten.

Leicht war der Schritt nicht, dennoch war es für sie ein großer Befreiungsschlag, als sie ihre Diagnose in der Arbeit offenbarte. Einmal kam eine wütende Kollegin zu ihr und sagte: "Ich könnte in die Luft gehen!" Daraufhin fragte sie sie nach ihren Urlaubsplänen und wohin sie gerne fliegen würde. Dass die Kollegin sich über einen Patienten geärgert hatte, merkte sie nicht. Die Kollegin wusste aber von ihrer Diagnose und nahm ihre Reaktion gelassen.

Heute ist es ihr Ziel, auch andere Betroffene zu ermutigen, sich dem Leben mit allen seinen Herausforderungen zu stellen. Deshalb hält sie Vorträge und schreibt Bücher über Autismus.*

Asperger- und Kanner-Autismus bei Kindern und Jugendlichen

Der Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner diagnostizierte 1943 als erster Autismus, und zwar den frühkindlichen, der nach ihm als Kanner-Autismus bezeichnet wurde und eine besonders ausgeprägte Form des Autismus darstellt. Die betroffenen Kinder, deren Intelligenz meist deutlich vermindert ist, haben große Schwierigkeiten, die Sprache zu erlernen, motorische Fähigkeiten zu entwickeln, mit ihrer Umwelt zu kommunizieren oder Beziehungen einzugehen.

Die Diagnose Asperger gilt als mildere Form des Autismus. Betroffene sind größtenteils normal- oder sogar hochintelligent. Sie haben aber Schwierigkeiten im sozialen Umgang und können nur eingeschränkt mit anderen Menschen interagieren und sich nur bedingt in ihre Mitmenschen einfühlen. Häufig gehen sie intensiv ihren mitunter außergewöhnlichen Interessen nach und halten an Gewohnheiten und Ritualen fest, auch wenn es in bestimmten Situationen dadurch zu Schwierigkeiten mit ihrer Umwelt kommt.

Durchgängiges Muster seit frühester Kindheit

Autismus wird als eine tiefgreifende Entwicklungsstörung bezeichnet. Das bedeutet, dass die Abweichungen vom altersgemäßen Entwicklungsverlauf in allen Lebensbereichen zum Ausdruck kommen können. Diese Abweichungen können in ihrem Ausprägungsgrad und in ihren Erscheinungsformen im Laufe der Entwicklung sehr unterschiedlich sein. Doch sie zeigen sich als durchgängiges Muster seit frühester Kindheit und bleiben ein Leben lang bestehen.

Neurodiversität bei Erwachsenen

Betroffene häufig mit beruflichen Problemen und psychischen Begleiterkrankungen

An dem Umstand, dass Autismus nicht heilbar ist, setzt die „Autism Rights“-Bewegung, die sich in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den USA gründete, an. In diesem Zusammenhang wird nicht von einer Störung gesprochen, sondern neutral von einer Andersartigkeit. Im Unterschied zu neurotypischen Menschen, also den sogenannten Gesunden, haben neurodiverse Menschen eben einfach andere Fähigkeiten und Talente.

Im Sinne der Neurodiversität werden übrigens auch ADS, ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie und Dyspraxie als natürliche Formen der menschlichen Verschiedenartigkeit verstanden. 

Menschen mit Asperger-Autismus haben oft große Probleme, Arbeit zu finden und zu behalten. Wenn im Arbeitsleben mehr auf die spezifischen Bedürfnisse der Betroffenen eingegangen würde, stünden jedoch deutlich mehr Fachkräfte zur Verfügung. Das belegen jedenfalls Forscher einer Studie, die die Situation Betroffener in Deutschland untersucht haben und das Fazit „überdurchschnittlich ausgebildete Arbeitslose“ zogen. 

Bei erwachsenen Betroffenen mit Autismus-Spektrum-Störung liegen häufig psychiatrische Begleiterkrankungen vor, vor allem Störungen wie Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrome. 

Ursachen bis heute nicht vollständig geklärt

Die Ursachen des Autismus sind bis heute nicht vollständig geklärt. Bei der Entstehung spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Neben den genetischen Einflüssen spielen wahrscheinlich biologische Abläufe eine Rolle. Sie können vor, während und nach der Geburt die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen und die autistische Störung auslösen.

Die meisten Autismus-Störungen werden auch heute noch im Kindes- und Jugendalter diagnostiziert. Mit zunehmendem Alter und Maskierungsleistungen der Erkrankten verschwimmen die typischen Symptome immer mehr und erschweren eine korrekte Diagnose.

Betroffene individuell und ganzheitlich behandeln

Die Behandlungsansätze müssen individuell an die spezifische Ausprägung und Intensität der Symptome angepasst werden. Dabei ist es wichtig, die Betroffenen ganzheitlich zu betrachten und zu unterstützen.

Die therapeutisch-pädagogische Begleitung hat vor allem die Normalisierung von Wahrnehmungsstörungen, den Aufbau positiver menschlicher Beziehungen, die Entwicklung von Kommunikationsstrategien und den Abbau von Ängsten und Irritationen zum Ziel.

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