Zwang und Zwangsstörung

Wenn die Neigung, Dinge zu kontrollieren oder der Hang zur Sauberkeit sich zu einer Zwangserkrankung entwickeln

11.11.2011 Von Dr. Christine Amrhein

Thomas B. hat nach einer Autofahrt den Gedanken: „Es könnte sein, dass ich unterwegs ein Kind angefahren habe, ohne es zu merken.“ Daraufhin fährt er die gleiche Strecke noch fünf Mal ab und steigt an allen Stellen, an denen sich häufig Kinder aufhalten, aus und überprüft, ob dort kein verletztes Kind am Boden liegt. Das passiert ihm immer öfter. Vor kurzem hat sich seine Frau von ihm getrennt.

Der 46-Jährige leidet unter einer Zwangsstörung wie etwa zwei Prozent der Bevölkerung. Diese Störung beginnt in den meisten Fällen in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter vor dem 30. Lebensjahr. Die Symptome nehmen meistens mit der Zeit zu und beeinträchtigen das Leben stark. Ohne Therapie wird die Störung bei zwei Drittel der Erkrankten chronisch.
Ein charakteristisches Merkmal der Zwangsstörung sind quälende immer wieder gleiche sich aufdrängende Gedanken und Impulse oder auch Handlungen, die der Betroffene in immer ähnlicher Weise ausführen muss.

Typisch für eine Zwangsstörung ist, dass der Betroffene sich bewusst ist, dass es seine eigenen Gedanken oder Impulse sind und dass sie im Grunde absurd sind. Er erlebt sie also anders als etwa bei der Schizophrenie nicht als von außen eingegeben.

Verschiedene Ausprägungen von Zwangserkrankungen

Zwanghaftes Verhalten

Ist der Herd aus? Brennt irgendwo noch eine Kerze? Diese Gedanken kennt wohl jeder. Doch belastend oder sogar krankhaft wird es erst, wenn jemand seinen ganzen Tagesablauf darauf abstimmt, immer und immer wieder zu kontrollieren, ob irgendetwas nicht der gewünschten Ordnung oder dem geplanten Ablauf entspricht.

Jeder Mensch ist bestimmten Alltagszwängen unterworfen, jeder Mensch entwickelt Routinen, um sein Leben besser zu organisieren. Auch wenn die individuelle Gestaltung variieren kann und diese Alltagsroutinen bei dem einen oder anderen schon zwanghafte Züge annehmen können, ist damit noch keine Zwangsstörung diagnostiziert. Um die Diagnose einer Zwangsstörung stellen zu können, müssen diese Symptome sehr belastend und so ausgeprägt sein, dass sie die normalen alltäglichen Aktivitäten deutlich beeinträchtigen.

Zwangsgedanken

Zwangsgedanken sind Gedanken, bildhafte Vorstellungen oder Handlungsimpulse, die sich aufdrängen und sich immer wieder in ähnlicher Form wiederholen. Der Inhalt von Zwanggedanken ist sehr individuell und hat mit dem jeweiligen biografischen Hintergrund zu tun. Es wird genau das gedacht, was nicht passieren soll. Insofern ist es verständlich, warum die Betroffenen so darunter leiden.

Wie die meisten Betroffenen kann auch Thomas B. seine belastenden Gedanken nicht einfach wegschieben, deshalb entwickelt er Zwangshandlungen, die ihm helfen, Angst und Anspannung wenigstens kurzfristig zu reduzieren. Doch dieses Neutralisieren, wie man das in der Fachsprache nennt, hält nicht lange an. Im Gegenteil, diese Zwangshandlungen tragen dazu bei, dass der Betroffene mehr und mehr von den Zwangsgedanken beherrscht wird, denn er kann nicht die Erfahrung machen, dass das Befürchtete gar nicht eintritt.

Betroffene leiden häufig unter starken Scham- und Schuldgefühlen. Die Zwangsgedanken sind dementsprechend meist sehr bedrohlicher Natur und haben Gewalt und Aggression, Schmutz und Verseuchung, Sexualität, Religion oder Magie und vor allem auch Ordnung zum Inhalt.

Zwangsimpuls

Bei Zwangsimpulsen leidet der Betroffene unter sich aufdrängenden Impulsen, etwas Verbotenes oder Sittenwidriges zu tun, ohne das selbst zu wollen, zum Beispiel ein Kind zu verletzen oder Menschen zu töten. Auch wenn die Betroffenen sehr darunter leiden, dass sie dem Impuls folgen könnten, tun sie es in der Regel nicht.

Zwangshandlungen

Häufig entwickeln Betroffene eine Art Ritual, um so den quälenden Charakter der Zwangsgedanken und -impulse zu mildern oder kurzfristig zu verhindern. Dabei handelt es sich meistens um wiederholte Kontroll- oder Reinigungshandlungen. Thomas B. fährt zum Beispiel jeden Abend noch einmal alle Straßen ab, um zu kontrollieren, ob er auch wirklich kein Kind angefahren hat. Je nach dem Grad seiner Anspannung wiederholt er diese Kontrollhandlungen sogar mehrmals an einem Abend.

Kontrollzwang

Eine der häufigsten Zwangshandlungen ist der Kontrollzwang. Menschen, die darunter leiden, verbringen viel Zeit damit zu überprüfen, ob beispielsweise der Herd ausgeschaltet ist, die Kerzen gelöscht sind oder Türen geschlossen sind. Sie entwickeln sehr zeitintensive Kontrollrituale, die sie auf Dauer daran hindern, am Leben teilzuhaben und ihre alltäglichen Aufgaben zu bewältigen.

Zwanghafte Persönlichkeitsstörung

Bei Menschen, die unter einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung leiden, gibt es für die Störung keinen lebensgeschichtlichen Auslöser, sondern anders als bei der Zwangsstörung sind alle Lebensbereiche davon betroffen.

Mit ihnen zusammen zu leben oder zu arbeiten, kann für andere sehr belastend sein. Denn Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung setzen ihre eigenen Moralvorstellungen absolut und kontrollieren häufig andere Menschen in ihrem Tun, ohne dazu beauftragt zu sein.

Sie können schwer über scheinbare Mängel hinwegsehen und ihren Blick nicht auf das große Ganze lenken. Die Fokussierung auf Details verhindert häufig, dass sie ihre eigenen Aufgaben rechtzeitig erledigen.

Zwangsstörung Therapie

Durch eine Therapie, die meist aus einer Kombination aus Psychotherapie und Medikamenten besteht, kann der Verlauf der Zwangsstörung in den meisten Fällen günstig beeinflusst werden.
Als wirksamste Therapiemethode bei Zwangsstörungen gilt die kognitive Verhaltenstherapie.

Andere Therapieansätze wie Psychoanalyse und tiefenpsychologische Verfahren sind als Ergänzung oder im Anschluss an eine erfolgreiche Behandlung der Zwangssymptome sinnvoll. Die Einbeziehung der Familie ist vor allem dann sinnvoll, wenn Kinder oder Jugendliche mit Zwängen behandelt werden oder wenn familiäre Konflikte bei der Entstehung oder Verschlechterung der Zwangssymptome eine Rolle spielen.

Verschiedene Studien haben gezeigt, dass eine Kombination aus einem Medikament und einer Psychotherapie die wirksamste Therapiemethode ist. Einige Antidepressiva, die meist zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden, haben sich auch bei Zwangserkrankungen als wirksam erwiesen.