Transgenerationales Trauma

Auch unbeteiligte Nachkommen können beängstigende Bilder und verstörende Flashbacks erleben

11.03.2025 Von Dr. Christine Amrhein

Auf einen Blick

  • Untersuchungen mit Nachkommen von Holocaust-Überlebenden und Überlebenden des Zweiten Weltkriegs haben gezeigt, dass manche von ihnen ähnliche Trauma-Symptome erlebten wie ihre Eltern oder Großeltern.
  • Bei der „Transmission“ eines Traumas spielen biologische, psychische und soziale Aspekte eine Rolle. Studien beschäftigen sich zunehmend mit der Frage, ob Traumata auf epigenetischem Weg weitergegeben werden können.
  • Auch bei einem transgenerationalen Trauma sind Ansätze der Traumatherapie hilfreich. Einige Fachleute haben spezielle Verfahren entwickelt.
  • Wichtig ist auch, wie in der Gesellschaft und der Politik mit kollektiven Traumata wie Kriegen oder Genoziden umgegangen wird. Denn dies kann zur Verarbeitung der Traumata beitragen und einer Weitergabe an nachfolgende Generationen entgegenwirken.

Immer wieder erlebt Tina (Name geändert) intensive, beängstigende Bilder, die sie nicht zuordnen kann. Darin sieht sie Szenen von Gewalt, viele Verletzte und zerstörte Gebäude. Sie spürt, dass diese Eindrücke irgendwie nicht zu ihrem Leben passen. Lange Zeit versucht sie, die unerklärlichen Erlebnisse zu verdrängen. Doch irgendwann geht es nicht mehr und sie beschließt, eine Psychotherapie zu machen. Gemeinsam mit ihrem Therapeuten findet sie heraus: Sie hat vermutlich ein transgenerationales Trauma.

In der Therapie berichtet sie, dass ihre Eltern in der Kindheit wenig Gefühle zeigten und sich den Kindern gegenüber wenig liebevoll verhielten. Außerdem habe ihr Vater ihre Mutter und die Kinder immer wieder geschlagen. Von ihrer Mutter hörte sie häufig: „Dein Vater hat ein ganz schlimmes Leben gehabt.“ Was er genau erlebt hatte, erzählte ihre Mutter nicht. Unbewusst versucht Tina, sich ein Bild zu machen, was ihrem Vater widerfahren sein könnte. Im Laufe der Zeit schnappt sie Gesprächsfetzen auf und in ihrem Kopf entsteht ein – ziemlich verschwommenes – Bild. Erst später findet sie heraus, dass ihr Vater früh in den Zweiten Weltkrieg eingezogen wurde. Dort musste er schwer Verwundete versorgen und irrte auf der Suche nach Verwandten verzweifelt in den Trümmern umher.

Die erschreckenden Erfahrungen ihres Vaters haben sich auf Tina übertragen und sie erlebt selbst die Symptome eines Traumas. Mithilfe der Therapie möchte sie die belastenden Bilder in den Griff bekommen – auch, um zu verhindern, dass sie das Trauma selbst an ihre Kinder weitergibt. *)

Was ist ein transgenerationales Trauma?

Kriege, Verfolgung, Gewalterfahrungen – Menschen, die solche schrecklichen, belastenden Ereignisse erlebt haben, sind häufig traumatisiert. Viele von ihnen entwickeln psychische Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen oder eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Typische Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung sind:

  • Es treten unerwünschte Erinnerungen an die traumatischen Situationen auf oder sie werden in Form von Flashbacks und Albträumen immer wieder erlebt. Bei einem Flashback, der durch bestimmte Reize ausgelöst wird, hat die betroffene Person das Gefühl, sich wieder in der traumatischen Situation zu befinden oder erlebt intensive Bilder der Situation.
  • Es können Ängste und Panikattacken auftreten.
  • Die traumatischen Ereignisse werden verdrängt und Situationen, die an das Trauma erinnern, aktiv vermieden.
  • Es können starke Schreckhaftigkeit, Unruhe, Reizbarkeit und Schlafstörungen auftreten.
  • Häufig fühlen sich die Betroffenen emotional abgestumpft und gleichgültig oder haben ein Gefühl der Entfremdung.
  • Es können dissoziative Reaktionen auftreten, etwa ein Verlust von Erinnerungen, ein Verlust der eigenen Identität oder Störungen der Bewegungsfähigkeit.
  • Die Betroffenen können Gefühle von Wut, Scham oder Schuld haben.

Zunächst klingt es überraschend, dass traumatische Erfahrungen und Trauma-Symptome unbewusst auch an die Nachkommen weitergegeben werden können. Man spricht hier auch von transgenerationaler Traumatisierung, transgenerationaler Trauma-Weitergabe oder einer Transmission des Traumas.

Nachkommen erleben beängstigende Bilder

Ähnlich wie die Eltern oder Großeltern, die das Trauma selbst erlebt haben, können die Nachkommen unwillkürliche, beängstigende Bilder und Fantasien erleben, die durch äußere Reize ausgelöst werden. Es kann auch sein, dass sie wiederkehrende, belastende Träume haben. Die Bilder oder Träume beziehen sich auf Ereignisse, die sie selbst nicht erlebt haben und die eher zu Erfahrungen der Generation ihrer Eltern oder Großeltern passen. Dabei reagieren die Betroffenen auf die Bilder oder Träume mit starker Angst oder Panik – so, als hätten sie das Trauma selbst erlebt. Gleichzeitig spüren und ahnen sie oft, dass das Trauma und die Symptome nicht zu ihrer eigenen Lebensgeschichte passen. 

Es kann sein, dass die betroffene Person von den traumatischen Erlebnissen ihrer Vorfahren weiß – es kann aber auch sein, dass sie nichts davon weiß, etwa, weil ihre Eltern nie darüber gesprochen haben.

In der Folge sind die Betroffenen häufig besonders anfällig für Stress, entwickeln starke Ängste, fühlen sich verunsichert oder hilflos, haben Schuld- und Schamgefühle oder spüren unterdrückte Wut, ohne die Gründe dafür zu verstehen. Sie können negative Überzeugungen von sich selbst, ein negatives Lebensgefühl und ein negatives Weltbild entwickeln, obwohl dies nicht zu ihrer eigenen Lebenssituation passt. Stattdessen passen diese Gefühle eher zu den traumatischen Erlebnissen ihrer Eltern oder Großeltern.

Manche Menschen, die ein transgenerationales Trauma erleben, entwickeln Panikattacken, Depressionen oder eine voll ausgeprägte Posttraumatische Belastungsstörung.

Wie unterscheiden sich individuelle und kollektive Traumata?

Traumatische Erfahrungen können eine einzelne Person betreffen, etwa, wenn jemand Gewalt oder sexuellen Missbrauch in der Familie, einen schweren Unfall oder eine Naturkatastrophe erlebt. Traumata können aber auch von sehr vielen Menschen, also einer ganzen Gruppe, erlebt werden, zum Beispiel bei Kriegserlebnissen, Genoziden, Massenvergewaltigungen oder Vertreibungen. Dann spricht man auch von einem kollektiven Trauma.

Seite 1/8