Ketamin - vom Narkosemittel zum Antidepressivum

Späte Hoffnung für Austherapierte durch psychedelische und antidepressive Wirkung?

03.07.2024 Von Angelika Völkel

Klaus K. hat in seiner Kindheit viel Gewalt erlebt. Bis heute leidet der 69-Jährige an Panikattacken und Depressionen. Er fühlt sich oft traurig und würde die Welt gern mit anderen Augen sehen. Eine jeweils dreijährige Verhaltenstherapie und Gestalttherapie verbesserten sein Wohlbefinden nur wenig.

Seit Januar reist der Musiklehrer im Ruhestand aus seiner Heimat Osnabrück regelmäßig nach Berlin, wo er in einer Tagesklinik eine durch Ketamin unterstützte Psychotherapie macht. Seine große Hoffnung ist, dass er durch die Therapie das Gefühl bekommt, endlich anzukommen.

Die einstündige Wirkung des Mittels ist in jeweils 30 Minuten Therapie vor und nach der Verabreichung eingebettet. Ein Psychotherapeut und eine Anästhesistin sind dabei, während dem Patienten das Medikament über eine Infusion zugeführt wird, er mit einer Schlafmaske im Gesicht auf einer Liege liegt und Entspannungsklänge hört.

Einige Patienten berichten von psychedelischen Reisen mit bewusstseinserweiternden Erlebnissen, bei denen sie Visionen haben und sich zum Beispiel aus der Vogelperspektive wie in einer Filmszene sehen können.

Klaus K. hat solche Reisen bisher nicht erlebt. Er habe aber einen Zugang zu traumatischen Erfahrungen bekommen, der vorher nicht da gewesen sei. In der letzten Sitzung habe er schließlich die Erfahrung gemacht, wie es sich anfühlt, anzukommen und ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme gespürt. Nach fünf Ketamin-Verabreichungen neigt sich die Therapie von Klaus K. ihrem Ende zu. Er wertet sie als Erfolg. Er hofft, dass die Ketamin-Therapie auch langfristig wirkt und er neue Lebensfreude finden kann.*

Die Entwicklung des Narkosemittels Ketaminchlorid

Ketamin ist eigentlich ein Narkosemittel, das vor allem bei Tieren und kleineren Kindern eingesetzt wird. Inzwischen wird es aber auch zur Linderung und Heilung psychischer Störungen wie Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen und Posttraumatischer Belastungsstörung eingesetzt.

Das Narkosemittel Ketamin, genauer Ketaminchlorid, wurde in den 1960er-Jahren entwickelt. Heute wird das Mittel wegen seiner Nebenwirkungen seltener bei Mensch und Tier eingesetzt und findet hauptsächlich in der Notfallmedizin Verwendung.

Im Rahmen eines Forschungsauftrages bei der Suche nach einem Ersatz für das mit starken Nebenwirkungen behaftete Narkosemittel Phencyclidin, in der Drogenszene auch bekannt als PCP oder Angel Dust, synthetisierte der US-amerikanische Chemiker Calvon L. Stevens 1962 erstmals die Substanz Ketamin.

Im Jahr 1966 erhielt Parke-Davis, die Firma, die ihn dazu beauftragt hatte, ein Patent für die Herstellung von Ketamin als Arzneimittel sowohl für die Human- als auch für die Tiermedizin.

Während des Vietnamkrieges wurde Ketamin an amerikanischen Soldaten erprobt und bald routinemäßig als Anästhetikum bei der Behandlung von Kampfverletzungen eingesetzt. 1970 wurde Ketamin als Arzneimittel zugelassen.

Ketamin ist längst auch in der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgeführt. Mit diesen Arzneimitteln lassen sich nach der Definition der WHO die dringlichsten Bedürfnisse einer Bevölkerung zur medizinischen Versorgung befriedigen. Die Modellliste ist als Empfehlung für Regierungen einzelner Staaten gedacht, um eigene Versorgungsstandards zu entwickeln, die an nationale Richtlinien und regionale Gegebenheiten angepasst sind.

Psychedelisches Potential und antidepressive Wirkung

Edward Felix Domino, damals Professor für klinische Pharmakologie an der Universität in Michigan (USA), führte bereits 1964 seinen ersten nichtmedizinischen Selbstversuch mit Ketamin durch und erkannte dabei das psychedelische Potential der Substanz. Er führte daraufhin die Bezeichnung dissoziatives Anästhetikum für Ketamin ein.

Die Forschungen mit Ketamin konnten im Rahmen des War on Drugs, des Kriegs gegen Drogen, den Richard Nixon, der damalige Präsident der USA, initiiert hatte, nicht fortgesetzt werden.

Der US-amerikanische Psychiater John Krystal entdeckte in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die antidepressive Wirkung von Ketamin.

Vor rund zwanzig Jahren wurde die Forschung mit diesen Substanzen im Rahmen der Behandlung psychischer Erkrankungen wieder aufgenommen. In Deutschland wird vor allem an der Berliner Charité mit psychedelischen Substanzen geforscht.