Verzeihen (Seite 4/7)

Ist Verzeihen immer richtig?

Verzeihen kann auch kontraproduktiv sein

Anders als in der Philosophie geht es beim Verzeihen in der Psychologie um eine versöhnliche Reaktion auf Verletzungen. Es geht nicht darum, moralisches Unrecht zu bagatellisieren.
Die Philosophin Susanne Boshammer spricht sich dagegen aus, jedem und alles zu verzeihen. Wer vergibt oder um Verzeihung bittet, kann der Fairness und Gerechtigkeit, dem sozialen Geben und Nehmen den Rücken zukehren, schreibt sie in ihrem Buch „Die zweite Chance. Warum wir (nicht alles) verzeihen sollten“. Gerechtigkeit gehöre zum Grundbestand menschlicher Kulturen weltweit.

Wer anderen etwas antut, sollte nicht unbedingt ungeschoren davonkommen. Denn auch Rache-Tabu und Verzeihen seien universal verankert, betont die Soziologin Sonja Fücker von der Universität Hannover, die sich in ihrem Buch „Vergebung“ mit der Alltagskultur des Verzeihens befasst. In früheren Zeiten musste sich die Tochter um die alten Eltern kümmern, ob sie wollte oder nicht. Heute kann eine Tochter, die schwere Verletzungen durch ihre Eltern erlitten hat, ihre Eltern in ein Pflegeheim geben und muss für den Unterhalt nicht einmal selbst bezahlen. Denn das Bürgerliche Gesetzbuch verpflichtet nur Eltern zum Unterhalt für ihre Kinder. Anders als die Kinder können die Eltern ihren Unterhaltsanspruch verwirken, wenn sie sich nicht entsprechend um ihren Nachwuchs gekümmert haben. Auch wenn es nicht immer um so drastische Beispiele geht, kann der Einzelne frei entscheiden, ob er verzeiht und zu den Konsequenzen darf er meist auch stehen.

Wann wird Verzeihen schädlich?

Diese Frage stellt die Psychologie heute verstärkt, nachdem es lange Zeit vor allem positiv bewertet wurde zu vergeben.

Verzeihen kann kontraproduktiv werden, wenn die Konfliktsituation weiterhin andauert. Wer beispielsweise in einer Beziehung mit einem Menschen, von dem er immer wieder gekränkt wird, lebt, müsste ständig aufs Neue verzeihen.

Für den Betroffenen kann es unter Umständen auch schädlich sein, sehr starke Kränkungen oder Verletzungen zu verzeihen. Gerade vor dem Hintergrund fehlender Reue und Einsicht und wenn die Verletzung schwer in das eigene Leben eingegriffen hat, kann es für einen Mensch wichtig sein, unversöhnlich zu bleiben, vor allem auch um die eigene Unversehrtheit zu schützen.

Übelnehmen und Rache

Sind Rache und Übelnehmen sinnvolle Alternativen zum Verzeihen?

Sich rächen zu wollen, gilt in unserem Kulturkreis als etwas Schambehaftetes. Man darf sich im Grunde nicht einmal eingestehen, solche Rachegefühle zu empfinden. Es wird stattdessen meist erwartet, das Ereignis auch aus der Perspektive des vermeintlichen Täters zu betrachten.

Der Philosoph Oliver Hallich möchte zumindest das Übelnehmen rehabilitieren. Damit signalisiere man jemanden, dass man ihn für einen Menschen halte, der moralischen Standards entsprechen können sollte und von dem man das auch erwarte, beschreibt der Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Universität Duisburg-Essen in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Außerdem habe das Übelnehmen eine wichtige soziale Steuerungsfunktion, eine informelle Strafe, die hilft, eine moralbasierte Ordnung aufrecht zu halten.

Dieser Auffassung schließen sich Philosoph:innen in jüngerer Zeit vermehrt an. So schreibt der US-Amerikaner Jeffrie G. Murphy in seinem Buch „Getting Even: Forgiveness and Its Limits“ — auf Deutsch kann man das mit „Gleichheit wiederherstellen. Verzeihen und seine Grenzen“ übersetzen —, dass Wut, Empörung, Übelnehmen, von der gesunden Selbstachtung einer verletzten Person zeugen.

Zu schnelles Verzeihen könne in gewisser Weise Unrecht trivialisieren, es könne zu einem mangelnden Respekt gegenüber dem Opfer oder zu einem Vergessen von Normverstößen, von denen man glaubt, dass sie weiter im kollektiven Bewusstsein gehalten werden sollten, führen.

Verzeihen wird von Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen inzwischen realistischer bewertet. Verzeihen kann zwar beschädigte menschliche Beziehungen wieder herstellen und Opfer helfen, die Kränkung hinter sich zu lassen und in eine neue Lebensphase einzutreten. Dagegen spricht allerdings, dass es Menschen gibt, die das auch können, ohne vorher zu verzeihen.