Verzeihen (Seite 2/7)

Wie läuft der Prozess des Verzeihens ab?

Auch wenn es meist eine bewusste Entscheidung ist, verzeihen zu wollen, gelingt einem das nicht innerhalb von Sekunden. Im Gegenteil, selbst wer bereit ist zu verzeihen, ist erst einmal traurig, wütend und erlebt oft sogar Rachegefühle. Diesem breiten Gefühlsspektrum ausgesetzt zu sein, ist aus der Perspektive der Kognitionswissenschaft jedoch sogar nötig. Denn die starken negativen Gedanken und Gefühlsregungen gegen die Person, die das Unrecht verübte, machen Prozesse, die für eine Vergebung entscheidend sind, erst möglich. Trauer, Wut und Zorn helfen beispielsweise, das Ereignis zu verarbeiten und Abstand zu gewinnen. Dieser Abstand ist wichtig, um überhaupt wieder auf den Täter zugehen zu können.

Die vier Phasen des Verzeihens

In der ersten Phase wird einem Menschen bewusst, dass ihm Unrecht geschehen ist.

In der zweiten Phase trifft der Betroffene eine bewusste Entscheidung. Nachdem er Vor- und Nachteile des Verzeihens abgewogen hat, kann er sich schließlich bewusst entscheiden, ob er verzeihen möchte oder nicht.

Wer sich entscheidet, dem Täter zu verzeihen, nimmt in der dritten Phase die Auseinandersetzung mit all den damit verbundenen aufgewühlten Gefühlen und Gedanken auf sich. In dieser Phase ist auch ein Perspektivenwechsel möglich und nötig. Der Betroffene versucht das Ereignis auch aus dem Blickwinkel des Täters zu betrachten. So kann er beginnen zu verstehen, warum der andere etwas getan.

In der vierten Phase ist schließlich das Verzeihen möglich.

Auch wenn Verzeihen positive Effekte auf Psyche und Körper hat, ist es doch ein insgesamt anstrengender Prozess für den Betroffenen, der den nötigen Perspektivwechsel mit entsprechender Unterstützung wahrscheinlich leichter vollziehen könnte.

In seinen Studien hat Mathias Allemand untersucht, wie Psychotherapeut:innen vor allem älteren Menschen bei dem Prozess des Verzeihens helfen können. Es gibt Metaanalysen, die gezeigt haben, dass eine professionelle Unterstützung hilfreich ist, das Wohlbefinden deutlich zu verbessern und die Belastung zu reduzieren. Eine Metaanalyse ist eine Methode aus der Statistik. Man fasst Ergebnisse aus mehreren Studien, die sich mit der gleichen Fragestellung beschäftigt haben, zusammen und kann dadurch ein aussagekräftigeres Ergebnis errechnen. Natürlich kann auch jüngeren Menschen eine professionelle Begleitung dabei helfen, diesen Prozess besser zur durchlaufen. Denn es kann durchaus schmerzhaft sein, sich im Zuge des Prozesses des Verzeihens, den Grund für die Verletzung anzuschauen. Auch der nötige Perspektivwechsel fällt meist leichter, wenn man dabei professionell unterstützt wird.

Welche Folgen kann es haben, nicht zu verzeihen?

Auch wenn starke negative Gefühle zum Prozess des Verzeihens dazugehören, gelingt es nicht jedem Menschen, sich wieder von ihnen zu lösen. Hass, Rachegefühle oder Verbitterung können Körper und Psyche belasten. Aus den daraus resultierenden Zuständen wie Erschöpfung oder Muskelverspannungen können Krankheiten entstehen, zum Beispiel Herz-Kreislauf-, Magen-Darm- oder Schlafstörungen. Menschen, die nicht bereit sind zu verzeihen, entwickeln häufiger Suchtstörungen als die, die bereit sind, es zu tun.
Ohne jemandem zu verzeihen, kann ein Mensch das Ereignis nicht loslassen. Gehirn und manchmal auch nur der Körper rufen die Erinnerung immer wieder wach. Wenn man beispielsweise dem Expartner auch nach vielen Jahren nicht verzeihen kann, hat man es häufig schwer, sich neu auf einen anderen Menschen einzulassen.

Verzeihen zu können ist dabei sehr individuell. Es gibt Menschen, denen Vergeben-Können leichter fällt: Ihre Persönlichkeit macht sie weniger nachtragend. Darum können sie kleinere Kränkungen schneller loslassen und grübeln weniger über die Vergangenheit nach. Die Psychologie weiß auch, dass ältere Menschen leichter vergeben können als jüngere, warum, das ist derzeit allerdings noch unbekannt.

Geschlechtsspezifische Unterschiede konnte die psychologische Verzeihens-Forschung bislang übrigens nicht ausmachen. Auch wenn das viele denken mögen: Frauen verzeihen keineswegs häufiger oder leichter als Männer.