Umgang mit dem Verlust von geliebten Menschen (Seite 6/7)

Trauer bei Kindern oft schwerer erkennbar

Kinder leiden sehr lange - mitunter Jahrzehnte - unter Verlust

Auch wenn sich die Trauer von Kindern und Jugendlichen der von Erwachsenen vor allem im Erleben und den damit verbundenen Aufgaben der Trauerverarbeitung ähneln kann, kann sie sich im Ausdruck und den Möglichkeiten der Verarbeitung deutlich unterscheiden. Es gilt als eine größere Herausforderung mit Kindern und Jugendlichen über das Sterben und den Tod zu sprechen und ihnen darüber hinaus in ihrer Trauer eine verlässliche Stütze zu sein.

Elisa ist elf Jahre alt. Sie lebt mit ihren Eltern in einem Vorort einer größeren Stadt. Elisa wächst mit dem Gefühl auf, dass sich die Eltern nicht verstehen. Sie streiten sehr oft. Sie ist gut in der Schule, strengt sich immer sehr an, um gute Noten nach Hause zu bringen. Schon immer ist sie eher ein Papakind. Die Mutter von Elisa ist ein emotionaler, aufbrausender Charakter und dabei immer sehr bemüht alles richtig zu machen. Seit Elisa denken kann, ist der Vater der, auf den man sich verlassen kann, der immer eine Lösung für jedes Problem weiß. Auch und gerade wenn sie sich etwas nicht zutraut, macht er ihr Mut.

Eines Tages als sie von der Schule nach Hause kommt, findet Elisa die Mutter weinend und zitternd am Küchentisch. „Papa ist krank. Er muss ins Krankenhaus.“ Elisa merkt in den nächsten Wochen, dass etwas ganz und gar nicht stimmt (gesamtes Fallbeispiel, siehe unten).

Besonderheiten der Trauerreaktionen bei Kindern

Viele Aspekte kindlicher Trauer ähneln dem Erleben der Erwachsenen. Entwicklungspsychologisch gesehen ist die Trauerreaktion eines Kindes nach dem Tod eines Elternteils zunächst einmal nicht nur ein zweckmäßiger, sondern evolutionär absolut notwendiger Anpassungsprozess. Die Trauer des Kindes ist schwer erkennbar, weil sie oft nicht hörbar ist und nicht offen mitgeteilt wird. Je nach Stand der kognitiven und emotionalen Entwicklung hat das Kind erstens oft keine Worte, um zu benennen, was in ihm passiert. Zweitens hat es keine Erfahrungen, um zu beurteilen, wie es reagieren darf und was hilfreiche Reaktionen wären. Drittens verfügt es über keine ausreichenden eigenen Regulationsmöglichkeiten.

Kinder ziehen sich in Trauerphasen oft in Fantasiewelten zurück. Vergleichbar zu Erwachsenen äußern sich ihre Trauergefühle in körperlichen Beschwerden (beispielsweise Brustschmerzen, wenn die Mutter an Brustkrebs erkrankt war). Eine Fehldiagnose, die passieren kann, ist die Zuordnung des Verhaltens in ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), wiewohl das Kind nur in einem Spektrum Unruhe und/oder Aggressivität psychisch reagiert.

Um zu beurteilen, inwieweit das Kind adäquat trauert, muss der kognitive und emotionale Entwicklungsstand des Kindes und die alters- und persönlichkeitsspezifischen Möglichkeiten auf den Verlust berücksichtigt werden. Das Kind sollte durch altersgerechte, sachliche Informationen zeitnah über den Tod eines nahestehenden Menschen aufgeklärt und zum Fragen ermutigt werden. Genauso wichtig wie für den Trauerprozess des Erwachsenen, ist auch für das Kind das Abschiednehmen. Wenn Dinge verheimlicht werden, entsteht beim Kind der Eindruck, dass ihm nicht vertraut wird. Dies kann zu einem Vertrauensverlust und zu Gefühlen von Einsamkeit führen. Wenn sich Angehörige nicht in der Lage fühlen, mit ihrem Kind über das Geschehen zu sprechen, können sie sich Unterstützung holen.

Altersentsprechende kreative (Malen, Schreiben, Spielen, Basteln) oder physische Angebote, die Beteiligung an oder zur gemeinsamen Entwicklung von Ritualen, helfen, den Schmerz auszudrücken und zu durchleben. Andere Unterstützungsmöglichkeiten wie Trauerbegleitung, Trauergruppen, Trauercafés, Seelsorger, Psychologen, sowie Angebote, die nicht direkt mit dem Themenkomplex verbunden sind, können für den Trauerprozess des Kindes hilfreich sein. Um dem Verstorbenen einen neuen Platz im Leben zu geben, ist es nicht falsch, sich an die Person und gemeinsame Erlebnisse zu erinnern. Bei der Anpassung an die neue Lebenssituation ist es wichtig, dass das Kind keine Rollen oder Aufgaben übernimmt, die ihm nicht entsprechen wie im Tätigkeiten im Haushalt oder Verantwortung für die Geschwister.

Normale versus pathologische Trauer bei Kindern

Normal ist es, wenn das Kind traurig ist. Anhaltende Depression und fortwährende Suizidgedanken sind ein klares Anzeichen für problematische Trauerverarbeitung. Ein gewisses Maß an Verschlossenheit – je nach Charakter – ist normal. Anzeichen für problematische Trauerverarbeitung wäre jedoch der soziale Rückzug vom sonst geführten Leben. Laut der US-amerikanischen Pädiatrischen Gesellschaft sind zunächst alle psychischen und psychosomatischen Reaktionen des Kindes im ersten halben Jahr nach dem Verlusterlebnis als normal einzuordnen.

Wissenschaftliche Erkenntnisse

Die wissenschaftliche Datenlage belegt eindrücklich, was es für ein Kind bedeutet, wenn ein Elternteil verstirbt. Kinder leiden oft Jahre oder Jahrzehnte unter diesem Verlust. Die Kinder und Jugendlichen wirken oft traurig und verloren. Ihr Gefühl von Verlorensein in der Welt wird selten erkannt, geschweige denn angemessen berücksichtigt, da der verbleibende Elternteil verständlicherweise von der eigenen Trauerverarbeitung so eingenommen ist, dass wenig oder kein Raum und Aufmerksamkeit für die Trauer der Kinder bleibt

Aller Wahrscheinlichkeit nach haben Kinder nach dem Tod eines Elternteils auch langfristig ein erhöhtes Risiko, psychisch krank zu werden. Bereits seit langem herrscht in klinischen Fachkreisen die Überzeugung, dass ein größerer Anteil dieser Kinder längerfristige psychische Auffälligkeiten entwickelt. Grundsätzlich muss unterschieden werden, welche Art von Belastungen tatsächlich mit einem Entwicklungsrisiko für die Kinder verbunden ist. Unstrittig ist, dass eine schwere Erkrankung eines Elternteils zu Beeinträchtigungen führen kann. Das drückt sich beispielsweise in niedrigerem Selbstwertgefühl, nicht voll ausgeprägter sozialer Kompetenz oder Depressionen aus. Die Beeinträchtigung der psychischen, geistigen und sozialen Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen kann ernsthaft sein, wenn ein Elternteil stirbt.

Determinanten der Trauer bei Kindern

Die klinische Praxis zeigt, dass es stark vom Umfeld abhängt, inwieweit ein Kind trauert oder langfristig leidet. Das Kind beobachtet im Normalfall genau, wie der Umgang des verstorbenen Elternteils mit der Krankheit war und wie der Patient sich sowie sein persönliches Umfeld auf den bevorstehenden Tod vorbereitet. Auch die Todesart (Unfall, Suizid oder Krankheit) beeinflusst, wie sehr und wie lange ein Kind leidet. Großen Einfluss haben darüber hinaus die spirituelle Orientierung und Nicht-Orientierung. Gebotene oder ausbleibende Unterstützung durch Geschwister und/oder Angehörige sowie Freunde spielt eine Rolle. Finanzielle und personelle Ressourcen im Trauerumfeld sind ein weiterer Anteil.

Kinder und Trauer: Fallbeispiel Elisa

Elisa ist elf Jahre alt. Sie lebt mit ihren Eltern in einem Vorort einer größeren Stadt. Elisa wächst mit dem Gefühl auf, dass sich die Eltern nicht verstehen. Sie streiten sehr oft. Sie ist gut in der Schule, strengt sich immer sehr an, um gute Noten nach Hause zu bringen. Schon immer ist sie eher ein Papakind. Die Mutter von Elisa ist ein emotionaler, aufbrausender Charakter und dabei immer sehr bemüht alles richtig zu machen. Seit Elisa denken kann, ist der Vater der, auf den man sich verlassen kann, der immer eine Lösung für jedes Problem weiß. Auch und gerade wenn sie sich etwas nicht zutraut, macht er ihr Mut.

Eines Tages als sie von der Schule nach Hause kommt, findet Elisa die Mutter weinend und zitternd am Küchentisch. „Papa ist krank. Er muss ins Krankenhaus.“ Elisa merkt in den nächsten Wochen, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Zwar sagt keiner direkt etwas, aber sie merkt, dass die Eltern große Angst haben. Auch Elisas Verhalten verändert sich. Sie klebe an ihrem Vater, sagt die Mutter und auch der Vater weiß sich nicht mehr zu helfen. Die große Angst, dass der Vater sterben könne, äußert sich im Gewand von Panikanfällen, Schlafstörungen und Albträumen. Die Mutter ist in dieser Zeit wenig Halt, zu sehr ist sie damit beschäftigt, sich selbst aufrecht zu halten und den Alltag irgendwie zu bewältigen. Manchmal gibt Elisa der Mutter die Schuld an der Erkrankung ihres Vaters.

Als der Vater auf der Palliativstation verlegt wird, versucht die Mutter Elisa auf das Sterben des Vaters vorzubereiten. Doch Elisa ist nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben, dass doch noch alles wieder gut werden kann. Die Gespräche gestalten sich schwierig, Elisa möchte nicht wissen, dass sie den geliebten Vater unwiderruflich verlieren wird. Die Mutter hat nicht die Kraft, sich mit der Tochter auseinanderzusetzen. Der Vater selbst spricht mit niemandem über den nahenden Tod, auch und explizit nicht mit Elisa. Als ihr Vater stirbt ist Elisa schockiert und weiß nicht, was sie tun soll. Sie ist über den Tod sehr verzweifelt und reagiert mit aggressiver Abwehr gegen die Mutter. Beiden Elternteilen nimmt sie sehr übel, dass sie nicht richtig mit ihr gesprochen hätten: „Warum hat Papa mir nicht gesagt, dass er sterben wird“, schreit sie weinend. „Ich versteh das nicht, hat er mich gar nicht lieb gehabt?“

Elisas Verzweiflung legt sich nicht. Ihre Mutter empfindet Elisa als Zumutung und wertet sie ab. Sie findet in ihr keinen Halt und auch sonst ist niemand an ihrer Seite. Sie übernimmt die Funktion des Vaters und kümmert sich um all das, was die Mutter nicht schafft. In der Schule ist sie weiterhin gut. Sie ist fleißig, damit ihr verstorbener Vater stolz auf sie wäre. Seelisch geht es ihr immer schlechter, Suizidgedanken sind häufig. Doch sie fühlt Verantwortung für den verstorbenen Vater.

Auch in den folgenden Jahren geht es Elisa häufig nicht gut. Es fällt ihr schwer, sich auf irgendetwas zu verlassen, hat sie doch erlebt, dass im Zweifelsfall alles ganz anders sein kann, als man einen Augenblick vorher noch glaubte. Sie merkt, dass sie mit ihrem Leben einfach nicht zurechtkommt. Manchmal, wenn gar nichts mehr zu funktionieren scheint, denkt sie darüber nach, ob es nicht besser wäre, einfach weg zu sein. Dann müsste sie sich mit all den Schwierigkeiten einfach nicht mehr auseinandersetzen.

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