Stigmatisierung (Seite 4/8)

Gründe für Stigmatisierung

Wie lässt sich erklären, dass Menschen stigmatisiert werden?

Es gibt zahlreiche Erklärungsansätze für die Stigmatisierung von psychisch kranken Menschen. Vor allem fehlendes Wissen verhindert dabei die Entkräftung von althergebrachten Vorurteilen, die nicht selten auch durch eine klischeehafte Darstellung psychisch Kranker in "den Medien"am Leben gehalten werden.

Psychologische Aspekte

Aus psychologischer Sicht spielen bei der Diskriminierung und Stigmatisierung psychisch kranker Menschen verschiedene Aspekte eine Rolle.

So sind psychische Erkrankungen in unserer Gesellschaft nach wie vor ein Tabu, über das viele Menschen ungern sprechen und zu dem sie auf Distanz bleiben möchten. Eigene psychische Probleme werden häufig verdrängt und vor anderen verheimlicht – und mit anderen Menschen, die psychische Probleme haben, möchte man ungern etwas zu tun haben. Ein weiterer Grund für Stigmatisierung kann sein, dass psychisch Kranke als “anders” und fremdartig empfunden werden, was Unbehagen auslösen kann.

Obwohl medizinische Erkenntisse über Ursachen, Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten zeigen, dass viele psychische Erkrankungen inzwischen gut behandelbar sind, haben viele Menschen ein eher negatives Bild von psychischen Erkrankungen und ihrer Behandelbarkeit.

Oft werden die Betroffenen durch Vorurteile in der Gesellschaft vorschnell mit bestimmten negativen Eigenschaften in Verbindung gebracht: Ihnen wird eine Art “Etikett” aufgedrückt, das sie nur schwer wieder loswerden. Das hängt zum Teil mit mangelndem Wissen über psychische Erkankungen zusammen – oft aber auch mit falschem Wissen. So kann es sein, dass psychisch Kranke als “verrückt” oder “labil” angesehen werden. Besonders von Vorurteilen betroffen sind Menschen mit schizophrenen Erkrankungen: Sie werden nicht selten als unberechenbar, unheilbar krank oder zu Gewalt neigend angesehen – obwohl all das nicht den Tatsachen entspricht.

Auch wie sich jemand die Entstehung einer psychischen Erkrankung erklärt, kann zu Vorurteilen und Stigmatisierung beitragen. Aus fachlicher Sicht entstehen psychische Erkrankungen durch ein komplexes Zusammenspiel biologischer, genetischer, psychischer und sozialer Faktoren. Manche Laien nehmen jedoch an, dass allein psychische und soziale Faktoren zu einer psychischen Erkrankung geführt haben. Dadurch halten sie die Betroffenen oft für ihre Erkrankung selbst verantwortlich.

Andere nehmen an, dass psychische Erkrankungen allein auf biologische und genetische Faktoren zurückzuführen sind. Dadurch sehen sie die Betroffenen zwar weniger als “schuldig” an ihrer Erkrankung an, schätzen aber auch die Behandelbarkeit als relativ gering ein. Zudem führt diese Sichtweise häufig dazu, dass das Bedürfnis nach sozialer Distanz, die Ablehnung und die Furcht vor den Betroffenen eher zunehmen.

Theorien, die Stigmatisierung erklären

Weiterhin gibt es verschiedene theoretische Konzepte, die zu erklären versuchen, wie es zu Stigmatisierung kommt:

  • Theorie der kognitiven Ökonomie: Demnach neigen Menschen aus Gründen der Vereinfachung dazu, in Kategorien zu denken und andere schnell einer Kategorie zuzuordnen. Auch der Wunsch, Ordnung und Bedeutung in der Welt zu finden, spielt dabei eine Rolle.
  • tiefenpsychologische Konzepte: Stigmatisierung und Diskriminierung werden hier als Mittel gesehen, um eigene Aggressionen und Unzufriedenheit zu kanalisieren. Diese werden dann an Schwächeren und Randgruppen der Gesellschaft wie etwa psychisch Kranken ausgelebt.
  • Theorie sozialpsychologischer Vergleichsprozesse: Nach dieser Theorie führen Menschen ständig soziale Vergleiche durch und neigen dazu, sich an sozialen Normen zu orientieren. So haben sie bestimmte Erwartungen, welche Eigenschaften andere Menschen haben und wie diese sich verhalten werden. Weicht jemand von diesen Erwartungen ab, stellt die Begegnung mit ihm eine Bedrohung für die eigene Identität dar. Den Betreffenden abzuwerten oder zu ihm auf Distanz zu gehen, kann dann ein Mittel sein, um sich vom “Unnormalen” abzugrenzen, die eigene Normalität zu betonen und so den eigenen Selbstwert aufrechtzuerhalten.
  • Downward Comparison Theory: Auch diese Theorie geht davon aus, dass man sich stets mit anderen Menschen vergleicht. Wertet jemand andere Menschen ab, trägt das dazu bei, sich selbst als “besser”, “fähiger”, “wertvoller” usw. anzusehen und so den eigenen Selbstwert zu steigern. Ähnliches gilt auch, wenn Menschen andere gesellschaftliche Gruppen abwerten, um so die Gruppe, zu der sie sich zugehörig fühlen, aufzuwerten.
  • evolutionstheoretische und ökonomische Theorien: Menschen mussten im Lauf der Evolution um Nahrung und Fortpflanzungspartner konkurrieren und konkurrieren auch heute noch um begrenzte Ressourcen, wie Geld und Güter, Belohnungen, Status und Chancen im Leben. Stigmatisierung hat nach diesen Theorien die Funktion, den Zugang zu begrenzten Ressourcen zu regeln: Die Abwertung und Ausgrenzung vermeintlich schwächerer oder andersartiger Menschen kann demnach dazu dienen, sich im Konkurrenzkampf Vorteile zu schaffen. Stigmatisierung kann zudem ein Mittel sein, um Macht auszuüben und es zu rechtfertigen, bestimmte gesellschaftliche Gruppen zu unterdrücken.

Rolle der Medien

Negative Klischees über psychische Erkrankungen werden oft von den Medien gefördert und aufrechterhalten. So werden psychische Erkrankungen in Filmen, im Fernsehen oder in den Printmedien häufig unzutreffend negativ, übertrieben oder sogar falsch dargestellt – mit dem Ziel, höhere Einschaltquoten zu erreichen oder weil komplexe Probleme vereinfacht dargestellt werden sollen. Zudem wird über psychisch Kranke oft im Zusammenhang mit Gewalttaten berichtet. Dadurch entsteht der falsche Eindruck, sie seien besonders gewalttätig – obwohl psychisch kranke Menschen nicht häufiger Gewalttaten begehen als der Durchschnitt der Bevölkerung.

In Spielfilmen, in denen psychisch Kranke oder die Psychiatrie eine Rolle spielen, werden diese oft unheimlich und angsteinflößend dargestellt – oder sie werden ins Lächerliche gezogen. Aber auch Filme, die die das subjektive Erleben und Verhalten psychisch Kranker drastisch darstellen, etwa bei Menschen mit schizophrenen Erkrankungen, können sich ungünstig auswirken. So wird eine solche Darstellung oft als beängstigend und bedrückend empfunden und erhöht eher den Wunsch nach Distanz zu den Betroffenen.