Stigmatisierung (Seite 3/8)

Systemische Stigmatisierung psychisch Kranker

Das Gesundheitssystem trägt auch einen Teil zur Stigmatisierung psychisch Kranker bei

Auch das Gesundheitssystem kann zu einer Stigmatisierung psychisch kranker Menschen beitragen – etwa durch die Vergabe von Diagnosen, durch die Teilnahme der Betroffenen an Therapieangeboten oder Präventionsmaßnahmen oder durch die Mitarbeiter der verschiedenen Berufsgruppen, die mit psychisch Kranken arbeiten.

Stigmatisierung durch Diagnosen

In Deutschland wird eine Psychotherapie nur dann von den Krankenkassen übernommen, wenn die Diagnose einer psychischen Erkrankung gestellt wurde. Eine solche Diagnose hat somit den Vorteil, dass man auf diese Weise therapeutische Unterstützung erhalten kann. Auf der anderen Seite ist die Diagnose einer psychischen Erkrankung oft mit einem Stigma verbunden. Denn kaum jemand möchte als „verrückt“ oder „psychisch krank“ angesehen werden.

Was als psychisch krank gilt und somit in die gängigen Diagnosesysteme aufgenommen wird, wird im Konsens von Fachleuten festgelegt – es ist also in gewisser Weise willkürlich. So wird zum Beispiel kontrovers diskutiert, ob und nach welcher Zeit eine Trauerreaktion nach dem Tod eines nahestehenden Menschen als psychische Erkrankung anzusehen ist.

Auch Kostenüberlegungen spielen bei der Vergabe von Diagnosen eine Rolle: Wird eine Diagnose wie zum Beispiel eine Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) sehr häufig vergeben, führt dies zu hohen Kosten im Gesundheitssystem. Dann kommt es vor, dass die Diagnosekriterien angepasst werden, so dass die Diagnose weniger häufig gestellt wird.

Unklar ist jedoch, wie eine Alternative zur Vergabe von Diagnosen aussehen könnte. Eine Möglichkeit wäre, dass die Betroffenen und ihre Angehörigen selbst darüber entscheiden, wann und in welchem Ausmaß sie psychotherapeutische Unterstützung brauchen – unabhängig von einer Diagnose. So wissen die Betroffenen oft selbst am besten, was für sie ein gutes, psychisch gesundes Leben bedeutet und ob sie mit ihren Problemen noch zurechtkommen oder Hilfe in Anspruch nehmen möchten. Allerdings wäre auch dieses Vorgehen willkürlich – und nicht immer können die Betroffenen zuverlässig einschätzen, ob und wie viel Hilfe sie benötigen.

Wie kann man dem entgegenwirken?

Auch unabhängig von einer Diagnose ist es für psychisch kranke Menschen wichtig, zu lernen, wie sie mit ihrer Erkrankung umgehen können. So ist es wichtig, sich mit der eigenen Erkrankung auseinanderzusetzen, sie zu akzeptieren und zu lernen, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Dazu gehört zum Beispiel auch, zu entscheiden, wie man über seine Erkrankung spricht und wem man was zu welchem Zeitpunkt mitteilt. Beratungsangebote können den offenen Umgang mit der eigenen Erkrankung bzw. Diagnose unterstützen. So haben Forschern aus Aachen das Konzept „Diagnosis talk“ entwickelt und geben Empfehlungen, wie Berater psychisch kranke Menschen dabei unterstützen können, über ihre Erkrankung bzw. Diagnose zu sprechen.

Stigmatisierung durch Mitarbeiter des Gesundheitssystems

Untersuchungen haben gezeigt, dass es – in abgeschwächter Form – auch bei Fachkräften im Gesundheitssystem Vorurteile und Tendenzen zur Stigmatisierung psychisch Kranker gibt. Und das, obwohl sie mit den Betroffenen in engem Kontakt stehen und fundiertes Fachwissen über die Erkrankungen haben. Dies betrifft gleichermaßen Ärzte, Psychologen und Psychotherapeuten, Sozialarbeiter oder Pflegekräfte.

So haben Psychiater und Psychologen, die mit psychisch kranken Menschen arbeiten, ihnen gegenüber zwar weniger Vorurteile als die Allgemeinbevölkerung. Dennoch haben einige von ihnen, ebenso wie einige Pflegekräfte und Mitarbeiter anderer Gesundheitsberufe, Vorurteile und neigen dazu, psychisch Kranke zu stigmatisieren.

Es hat sich gezeigt, dass Mitarbeiter der Gesundheitsberufe ihre Patienten ständig beurteilen. Ihre moralischen Urteile werden dabei von den gleichen Vorurteilen geprägt, die auch insgesamt in der Bevölkerung vorkommen. Zu einer negativen Bewertung und Stigmatisierung kommt es vor allem, wenn die Fachkräfte den Eindruck haben, ihre Anstrengungen bei der Behandlung würden nichts bringen, der Patient habe keine günstige Prognose oder er sei (zumindest teilweise) selbst Schuld an seiner Erkrankung.

Weiterhin sind vor allem Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und Suchtproblemen von Stigmatisierung bedroht. Zu den schweren psychischen Erkrankungen zählen Schizophrenie, schwere bipolare Störungen, schwer ausgeprägte Depressionen, schwere Angst- und Zwangsstörungen und schwere Persönlichkeitsstörungen. Suchterkrankungen gelten dagegen nicht als schwere psychische Erkrankungen.

Eine Untersuchung hat gezeigt, dass 16 bis 44 Prozent des Fachpersonals in psychiatrischen Kliniken negative Einstellungen gegenüber schwer psychisch Kranken haben. Bei Allgemeinärzten sind solche negative Einstellungen noch ausgeprägter als bei psychiatrischem Fachpersonal. Auch gegenüber Menschen mit Suchterkrankungen haben viele Mitarbeiter im Gesundheitssystem negative Einstellungen. Sie glauben zum Beispiel, dass diese manipulativ und wenig motiviert für die Behandlung seien. Eine Ausnahme sind Fachkräfte, die in Spezialeinrichtungen für Suchtkranke arbeiten.

Die Diskriminierung und Stigmatisierung durch Mitarbeiter der Gesundheitsberufe sind dabei stärker ausgeprägt, wenn das Arbeitsklima schlechter ist und wenn die Mitarbeiter selbst an psychischen Erkrankungen wie Burnout oder Depressionen leiden.
Vorurteile und Stigmatisierung können sich negativ auf die Behandlung der Patienten auswirken. Zum einen können sie dazu führen, dass die Mitarbeiter weniger einfühlsam mit den Patienten umgehen. Zum anderen kann es sein, dass sie die psychiatrische Diagnostik oder körperliche Untersuchungen weniger sorgfältig durchführen, so dass falsche Diagnosen gestellt oder Krankheiten übersehen werden können. Darüber hinaus nehmen die Patienten die Stigmatisierung selbst wahr und reagieren häufig mit ungünstigem Verhalten in der Therapie, selbst gefährdendem Verhalten oder einem Abbruch der Behandlung.

Wie kann man dem entgegenwirken?

Um eine solche Stigmatisierung zu vermeiden, die den Patienten schadet, ist es wichtig, Vorurteile von Mitarbeitern im Gesundheitssystem abzubauen und ihre Einstellungen zu verändern. Das kann durch eine gute Ausbildung und die Vermittlung konkreter Informationen zu den einzelnen psychischen Erkrankungen geschehen, aber auch durch direkten Kontakt und Nähe zu Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Wichtig ist es auch, zur Vorbeugung von Stigmatisierung das Arbeitsklima in Einrichtungen der Psychiatrie und Suchthilfe zu verbessern, so dass die Mitarbeiter zufriedener sind und weniger selbst an psychischen Erkrankungen wie Burnout oder Depressionen leiden.
Weiterhin sollte auch die Berichterstattung über psychisch Kranke in den Medien verändert werden und mehr über positive Beispiele berichtet werden, bei denen die Betroffenen ihre psychische Erkrankung bewältigen oder gut mit ihr leben können. Dies kann sich sowohl auf Vorurteile in der Bevölkerung und als auch von Mitarbeitern des Gesundheitssystems günstig auswirken.

Stigmatisierung durch Therapie und Prävention

Auch die Tatsache, dass jemand wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung ist, etwa in einer psychiatrischen oder psychosomatischen Klinik oder in einer ambulanten Psychotherapie, kann zu Stigmatisierung beitragen. Dies ist bei stationären Behandlungen eher der Fall als bei ambulanten.

Weiterhin können auch Präventionsmaßnahmen, die sich gezielt an Risikogruppen für psychische Erkrankungen richten, stigmatisierend wirken. Solche Maßnahmen können sich an Menschen wenden, die bereits erkrankt sind, um einen Rückfall zu vermeiden, aber auch an Gruppen, bei denen ein erhöhtes Risiko für eine bestimmte Erkrankung angenommen wird – etwa an Jugendliche mit einem Risiko für Alkohol- oder Drogenmissbrauch. Die Teilnahme an der Präventionsmaßnahme oder das Aufzeigen von Zusammenhängen, die verdeutlichen, warum die Betroffenen ein erhöhtes Risiko haben, kann dazu führen, dass diese sich als “Risikoträger” stigmatisiert, abgewertet und ausgegrenzt fühlen. So können Jugendliche, die an einer solchen Präventionsmaßnahme teilnehmen, das Gefühl bekommen: “Ich bin also jemand mit einem Drogenproblem”.
Dies kann ungünstige Auswirkungen haben: So haben Untersuchungen gezeigt, dass ein Viertel der Programme zur Prävention von Alkohol- oder Drogenmissbrauch bei Jugendlichen zu einer Zunahme des Konsums führen.

Auch hier besteht ein Dilemma: Um psychische Erkrankungen zu behandeln oder ihnen vorzubeugen, ist es notwendig, die Erkrankung bzw. die Risikogruppen zu definieren. Auf der anderen Seite kann das für die Betroffenen eine Form von Diskriminierung bedeuten.

Wie kann man dem entgegenwirken?

Fachleute betonen daher, dass es wichtig ist, möglichst stigmafreie Präventionsmaßnahmen durchzuführen. Die Mitarbeiter, die die Präventionsprogramme durchführen, sollten selbst immer wieder über das Thema Stigmatisierung nachdenken – zum Beispiel darüber, wann und warum es zu Stigmatisierung kommt. Außerdem sollten sie im Team darüber sprechen und offen mit Fehlern beim Umgang mit der Zielgruppe umgehen.

Weiterhin sollte sich das Vorgehen bei Präventionsmaßnahmen weniger an den Defiziten, sondern vor allem an den Ressourcen der Teilnehmer orientieren. Dabei sollten zunächst ihre Stärken herausgearbeitet und diese dann gezielt gefördert werden. Negative Bewertungen sollten vermieden werden. Um das Vertrauen der Teilnehmer zu gewinnen, sollten ihnen die Ziele der Präventionsmaßnahmen offen mitgeteilt werden. Schließlich sollten sie an der Gestaltung der Maßnahmen aktiv mitwirken können.

Fazit

Um eine Stigmatisierung psychisch Kranker durch das Gesundheitssystem so weit wie möglich zu vermeiden, ist es wichtig, Fachleute der Gesundheitsberufe für das Thema Stigmatisierung zu sensibilisieren, damit diese sich des Problems selbst bewusst werden. Weiterhin ist es wichtig, Strategien zu entwickeln, mit denen eine Stigmatisierung psychisch Kranker durch Diagnose- und Therapieverfahren oder durch die Mitarbeiter des Gesundheitssystems vermieden werden kann. Allerdings räumen Fachleute ein, dass sie mit solchen Strategien bisher noch am Anfang stehen.

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