Prokrastination (Seite 2/5)

Ursachen von Prokrastination

Gründe für krankhaftes Aufschieben sind vielfältig

Wer ständig etwas Wichtiges, das er tun sollte, aufschiebt, kann das aus den unterschiedlichsten Gründen tun. Die Ursachen des Prokrastinierens sind sehr weit gefächert.

Zu behaupten, dass jemand einfach nur faul ist oder sich zu wenig am Riemen reißt, trifft den Kern dieser Arbeitsstörung nicht, denn ihre Ursachen liegen laut Prokrastinationsforscherin Engberding tiefer. Die Betroffenen leiden unter ihrem Verhalten und das meist den ganzen Tag lang. Denn das, was sie tun, um die eigentliche Aufgabe zu vermeiden, können sie nicht wirklich genießen. Im Gegenteil, im Grunde erleben die meisten von ihnen nie Freizeit, weil sie permanent an die Dinge, die sie eben nicht erledigen, denken.

Ein entscheidendes Merkmal von Prokrastination gegenüber dem bloßen Aufschieben ist, dass jemand, der hin und wieder aufschiebt, zwar unter Zeitdruck gerät, aber die Tätigkeit, die er erledigen sollte, dann schließlich doch zu Ende bringt. Derjenige aber, der pathologisch prokrastiniert, erledigt sie auf den allerletzten Drücker mehr schlecht als recht. Oft stellt er seine Arbeit nur verspätet oder gar nicht mehr fertig, was meist negative Konsequenzen nach sich zieht.

Gehirn wird auf Ausweichen konditioniert

Menschen neigen grundsätzlich dazu, eher das zu tun, was kurzfristig eine positive Wirkung hat und sie sich gut fühlen lässt. Die meisten Menschen möchten sich sofort gut fühlen und Unbehagen sowie Angst vermeiden. Etwas Unangenehmes hinauszuschieben und stattdessen etwas zu machen, was einem mehr Freude bereitet oder zumindest etwas angenehmer ist als die Aufgabe, die man vor sich herschiebt, ist also ganz natürlich, weil man sich sofort wohler fühlt.

Mit dem Aufschieben der anstehenden Aufgabe kann man sein Leben allerdings langfristig gravierend negativ beeinflussen, zum Beispiel wenn man sein Studium nicht abschließt oder berufliche Aufgaben so spät oder gar nicht erledigt, bis man schließlich gekündigt wird.

Außerdem konditioniert man sein Gehirn aufs Ausweichen, je regelmäßiger man aufschiebt. Je häufiger man also das Aufschieben wiederholt, desto schwieriger wird es, an seinen Aufgaben zu bleiben und sie zu Ende zu führen.

Mehrere Studien haben belegt, dass Aufschieben mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen zusammenhängt. Wer weniger gewissenhaft ist und sich selbst weniger kontrollieren kann, neigt demnach eher zum Prokrastinieren. Auch Impulsivität, also das Handeln aus dem Moment, unterstützt das Aufschieben.

Angst verhindert das Anfangen

Ob jemand aufschiebt oder nicht, hängt aber auch von den Aufgaben selbst ab: Wer eine Aufgabe als langweilig einschätzt, wird sie nicht so gern in Angriff nehmen und lieber etwas tun, das er als spannender empfindet. Fühlt man sich jedoch überlastet und hat Befürchtungen oder sogar Angst, der Aufgabe nicht gerecht werden zu können, fördert dies ebenfalls das Aufschieben.

Genau diese Angst ist in den meisten Fällen auch der Grund dafür, warum Betroffene nicht einfach beginnen. Querschnittuntersuchungen der Universität Münster zeigen, dass Prokrastination mit der Angst zu versagen und negativ bewertet zu werden zusammenhängt.
Diese Angst kann dazu führen, dass Betroffene eine Aufgabe so lange aufschieben, bis es nicht mehr möglich ist, sie zufriedenstellend zu erledigen. Häufig beschwichtigen sich Betroffene damit, dass sie sich selbst vormachen, nicht genug Zeit gehabt zu haben. Das macht das eigene Versagen zwar eher akzeptabel, aber letztlich nehmen sich die Betroffenen die Möglichkeit, ihre Chancen im Leben zu nutzen.

Außerdem hemmt Betroffene, sich an die Arbeit zu machen oder dabei zu bleiben, weil sie Angst haben, den vermeintlichen Erwartungen anderer nicht gerecht werden zu können. Die Ansprüche anderer nicht erfüllen zu können, ist auch für Perfektionisten belastender als vor sich selbst nicht zu bestehen.

Nie lernen gelernt

Viele Betroffene haben aber auch nie gelernt zu lernen. Sie wissen nicht, wie das geht, sich hinzusetzen, ihre Zeit zu strukturieren und konzentriert bei ihrer Aufgabe zu bleiben.
Ohne Partner zu leben, ist auch ein Risikofaktor für Prokrastination. Wer allein lebt, hat mehr Zeit, im Internet zu surfen, kann abends so lange arbeiten, wie er möchte.

Seine Aufgaben tagsüber so lange zu verschieben, bis sie nur noch abends erledigt werden können, nennt die Forschung Eveningness. Der Betroffene sitzt beispielsweise schon morgens am Schreibtisch, geht seine Aufgabe aber nicht entsprechend an, sondern schiebt sie stündlich vor sich her, bis nur noch abends oder nachts Zeit dafür bleibt. Wer jedoch in einer Partnerschaft oder Familie lebt, steht mehr unter dem sozialen Druck, auch irgendwann am Gemeinschaftsleben teilnehmen zu müssen.

Aufschieber haben Schwierigkeiten, ihre Aufgaben zu priorisieren. Einem langfristigen Projekt, bei dem die Belohnung in Form des Abschließens noch in weiter Ferne liegt, lassen sie gern eine kurzfristige Aufgabe dazwischen kommen, deren erfolgreicher Abschluss viel schneller zu einem Erfolgserlebnis führt. Sie sind nicht imstande, beide Projekte objektiv zu vergleichen, weshalb sie die Wertigkeit von Aufgaben, die noch in ferner Zukunft liegen, viel geringer schätzen.

Prüfungsangst und Perfektionismus sind nicht Ursache

Menschen, die oft aufschieben, fühlen sich meist nicht wohl, selbst während sie ihre Lieblingsserie ansehen oder im Internet nach neuer Kleidung oder anderen Dingen surfen. Prokrastination ist mit so starkem innerem Druck verbunden, dass die Psyche früher oder später Schaden daran nimmt. Denn wenn sich Berge unerledigter Dinge auftürmen, geht das auf Kosten von Lebensqualität und Zufriedenheit.

Auch wenn das im ersten Moment verwundern mag, Prüfungsangst und Perfektionismus sind als Grund des Aufschiebens in vielen Fällen zweitrangig, beides wird durch das Aufschieben allerdings verstärkt. Wenn die Menschen das Aufschieben in den Griff bekommen, werden jedoch auch diese Probleme weniger.

Eine neurowissenschaftliche Studie der Ruhr-Universität Bochum hat gezeigt, wie groß die Hürde für Aufschiebende auch physiologisch sein kann: Bei ihnen sah man im Kernspintomografen ein größeres Gefühlszentrum im Gehirn; sie fürchten also wahrscheinlich eher die negativen Konsequenzen ihres Tuns. Gleichzeitig war diejenige Hirnregion weniger aktiv, die ihre Handlungen steuert. Und die beiden Areale schienen nicht gut miteinander verknüpft zu sein.

Das kann erklären, warum störende Emotionen manche Menschen eher dazu bringen, eine geplante Handlung nicht mehr zu verfolgen und auszuweichen. Und es verdeutlicht, wie sich dies als Gewohnheit verfestigt. Wer stattdessen unangenehme Aufgaben mit positiven Emotionen koppelt, sie konsequent angeht und sich auch dafür belohnt, gibt dem Gehirn eine neue Chance, denn es lernt durch Erfahrung.

Eigene Leistungsansprüche zu hoch

Betroffene hinterfragen außerdem zu selten, warum bestimmte Tätigkeiten negative Gefühle in ihnen hervorrufen. Die eigenen Leistungsansprüche sind möglicherweise zu hochgesteckt und Zielsetzungen unrealistisch.

Eine Studie des Forschungsschwerpunkts (FSP) Medienkonvergenz der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz suchte eine Antwort auf folgende Frage zu finden: Warum schieben Menschen Tätigkeiten auf, wenn dies absehbar zu Stress und negativen gesundheitlichen Folgen führt? Die Studie zeigte unter anderem, dass junge Menschen Zeit als scheinbar unbegrenzt empfinden und ihnen vielfach Gewissenhaftigkeit nicht so wichtig ist. Sie leben in dem Gefühl, dass ihnen das Leben und eine Zukunft offenstehen, die ihnen schier unzählige und vielfältigste Möglichkeiten und Chancen bieten. Der Studienanfänger sieht sich beispielsweise vor die Wahl aus tausenden Studiengängen gestellt. Zudem sind Erwerbsbiographien weniger geradlinig und planbar geworden. All dies kann Menschen überfordern und zu einer Prokrastination beitragen.

Junge Menschen leben oft in dem Gefühl, dass alles noch vor ihnen liegt. Wer denkt, dass Zeit keine Rolle spielt, der schiebt eher auf als Ältere, die sich der Vergänglichkeit der Jahre bewusst sind.

Ein weiterer Grund ist, dass insbesondere Studierende häufig zu wenig von äußerer Struktur gestützt werden. Wer durch regelmäßige Arbeitszeiten einen strukturierten Alltag hat, dem fällt Selbstdisziplin meist auch etwas einfacher. Für Manfred Beutel, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Mainz, der ebenfalls viel über das Prokrastinieren forscht und mehrere Studien dazu geleitet hat, ist ein fehlender strukturierter Tagesablauf einer der wesentlichen Gründe, warum Menschen zur Prokrastination neigen.

Außerdem sind Jüngere in der Regel stärker medienaffin und nutzen Onlinemedien in der Tendenz stärker als ältere Menschen. Gerade die Jüngeren haben häufig Angst, etwas zu verpassen und verschwenden viel Zeit auf den sozialen Medien.

Tieferliegende Ängste und Unsicherheiten

Negative Kindheitserlebnisse wie übermäßige Kritik können dazu führen, Aufgaben aus Angst vor Versagen aufzuschieben. Auch mangelnde Struktur und chaotische Familienverhältnisse begünstigen Prokrastination.

Auch wenn das zunächst überraschen mag, die Angst vor Erfolg kann ebenso zu Prokrastination führen. Jeder Erfolg bringt das Risiko des Scheiterns bei der nächsten Aufgabe mit sich.

Außerdem können fehlende Motivation, ein geringes Selbstvertrauen, sowie Störungen in der Arbeitsumgebung das Aufschieben begünstigen.

Psychologisch betrachtet, spielen insgesamt oft tieferliegende Ängste und Unsicherheiten eine Rolle.

Soziales Umfeld hat großen Einfluss

Ein weiterer Parameter in Bezug auf Prokrastination ist, ob sich jemand gut in einen zukünftigen Zustand hineinversetzen und diesen beschreiben kann, egal ob negativ oder positiv. Wer das beherrscht, verfügt tendenziell über mehr Selbstkontrolle und ist weniger prokrastinationsgefährdet. Das hat auch mit Selbstwirksamkeit zu tun. Diese beschreibt die Annahme, dass man die eigene Zukunft beeinflussen kann. Hat man die Erwartung, dass man einen bestimmten Zustand herbeiführen kann, tut man sich leichter, nicht zu prokrastinieren. Die Annahme, man habe einen positiven Einfluss auf die eigene Zukunft, motiviert.
Genetische Komponenten spielen ebenfalls eine Rolle, vor allem hinsichtlich der kognitiven Kontrolle.

Es gibt wissenschaftliche Belege, dass das soziale Umfeld einen großen Einfluss hat. Menschen, die in ihrer Kindheit wenig Stabilität und Sicherheit erlebt haben, haben mehr Schwierigkeiten mit Selbstkontrolle und Prokrastination. In sozial schwachen Familien sind Tagesabläufe oft unvorhersehbar. Auch das Gefühl, sich auf seine Eltern oder Bezugspersonen verlassen zu können, ist viel schwächer. Werden aber Versprechen oder Abmachungen nicht erfüllt, entwickelt ein Kind weniger Selbstwirksamkeit. Wer so aufwächst, kann sich auch schwerer vorstellen, seine eigene Zukunft positiv zu beeinflussen.