Was ist Prokrastination?
Wenn krankhaftes Aufschieben das eigene Leben ausbremst
17.09.2024 Von Angelika Völkel
Martin, ein 47-jähriger Lehrer für Französisch und Deutsch, quält sich seit Jahren mit dem Korrigieren von schriftlichen Arbeiten herum. „Es ist der reinste Horror! Wir müssen ja in jeder Stufe eine bestimmte Anzahl von Klausuren schreiben lassen, und ich habe die letzten noch nicht fertig nachgesehen, wenn ich schon die nächsten wieder stellen muss. Es hat deshalb schon Beschwerden von den Eltern bei der Schulleitung gegeben. Die Korrekturen der komplexen und anspruchsvollen Arbeiten in den Leistungskursen, bei denen von meinem Urteil auch viel für die Abiturnote abhängt, schiebe ich auf. Ich sitze voller Widerwillen vor Stapeln von Arbeiten wie das Kaninchen vor der Schlange und kann mich einfach nicht überwinden, anzufangen. Dann mache ich schließlich erst etwas anderes: rufe Freunde an, gehe einkaufen oder gucke Serien, die ich mir sonst nie anschauen würde. Weil immer ein Berg von Korrekturarbeit auf mich wartet, habe ich gar keine echte Freizeit mehr. An Wochenenden nehme ich mir nichts anderes mehr vor – nach dem Motto ‚Erst die Arbeit, dann das Vergnügen‘, bleibe dann extra zu Hause, schiebe dann aber den Berg Stunde für Stunde bis zum Sonntagabend vor mir her und schaffe letzten Endes fast nichts.“ *
Wie Martin leidet etwa jeder Fünfte in Deutschland unter Prokrastination. Der Fachbegriff leitet sich vom Lateinischen procrastinare ab, was aufschieben oder auf morgen verlegen bedeutet. War der Begriff früher, beispielsweise beim antiken Feldherrn Cäsar, noch positiv besetzt, weil er im Zusammenhang mit einem überlegten Handeln benutzt wurde, beschreibt er heute ein krankhaftes Aufschieben. Dieses pathologische Aufschieben wird zwar noch nicht als eine eigene psychische Störung klassifiziert, aber es kann dazu beitragen, eine zu entwickeln oder auch als Begleiterkrankung schon bestehender psychischer Störungen in Erscheinung treten.
Prokrastination ist eine ernstzunehmende Arbeitsstörung
Aufgeschoben werden vor allem schwierige oder langwierige Aufgaben im schulischen, akademischen und beruflichen Bereich ebenso wie im Privatleben. Gerade wenn es um Tätigkeiten geht, die ein hohes Maß an Selbststeuerung und -regulation erfordern, neigen viele Menschen dazu, solch eine Aufgabe erst einmal zu verschieben.
Die meisten Menschen wissen, wie es ist, etwas aufzuschieben. Studien, die an der Universität Münster durchgeführt wurden, ergaben, dass nur zwei Prozent der Befragten Aufschieben als Verhalten von sich selbst nicht kennen.
Wenn man gelegentlich oder nur bestimmte Tätigkeiten verschiebt und das keinen negativen Einfluss auf das eigene Leben hat, besteht kein Leidensdruck. Doch wenn man wie im Falle von Martin das, was man eigentlich tun müsste und das auch von anderen Menschen eingefordert wird, immer wieder verschiebt, kann das zu großen Schwierigkeiten führen.
Eine Repräsentativ-Erhebung, die Wissenschaftler der Universitätsmedizin Mainz im Rahmen des Forschungsschwerpunkts Medienkonvergenz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz durchgeführt haben, zeigt, dass Menschen, die Tätigkeiten häufig aufschieben, seltener in Partnerschaften leben, häufiger arbeitslos sind und über ein geringes Einkommen verfügen. Betroffen sind vor allem männliche Schüler und Studierende. Die Studie bestätigt, dass ausgeprägtes Aufschiebeverhalten mit Stress, Depression, Angst, Einsamkeit und Erschöpfung einhergeht.
Studierende sind besonders häufig betroffen
Schüler und Studierende prokrastinieren demnach häufiger als ihre berufstätigen oder in einer Ausbildung befindlichen Altersgenossen. Gerade im Leben von Studierenden trifft dieses Phänomen immer häufiger auf.
Sieben Prozent der Studierenden, die an einer großen Querschnittsstudie an der Universität Münster teilgenommen haben, erreichen Prokrastinationswerte über dem Durchschnitt der Personen, die sich dort aufgrund dieses Problems behandeln lassen. Herausforderungen im Studium und ein unzureichendes Selbstmanagement können die Leistung im Studium und das eigene Wohlbefinden erheblich beeinträchtigen. Prokrastination führt leider nicht selten zur ungewollten Verlängerung der Studiendauer oder sogar zum Abbruch des Studiums.
Schätzungen zufolge sind 80 bis 95 Prozent aller Studierenden von Prokrastination betroffen. Ungefähr 70 Prozent davon sprechen von sich selbst als prokrastinierend. Weitere 50 Prozent schieben konstant und in einem problematischen Umfang auf.
Aufschieben betrifft beruflichen wie privaten Bereich
Das Aufschieben betrifft studienbezogene Aktivitäten wie das Schreiben von Hausarbeiten, das Vorbereiten von Prüfungen, die Anmeldung zu Seminaren oder allgemein das Lernen für das Studium.
Die Forschung zeigt, dass der akademische und der private Bereich sowie das Verhalten am Arbeitsplatz einer Person meist in gleichem Maße betroffen sind. Personen, die nur in einem der Bereiche prokrastinieren oder zumindest dazu tendieren, sind selten bis gar nicht vorzufinden. Aus diesem Grund lassen sich Messinstrumente und Modelle vom akademischen Bereich auch auf die alltägliche Prokrastination oder die am Arbeitsplatz übertragen. Wenn Personen dysfunktional aufschieben, handelt es sich um eine stark ausgeprägte Tendenz im Verhalten, die meist alle Lebensbereiche betrifft.
In einigen Untersuchungen zur Prokrastination von Studierenden hat sich gezeigt, dass auch die Art der Anleitung für eine Aufgabe entscheidend dafür sein kann, ob sie ausgeführt wird. Demnach lässt sich das Aufschieben einer Aufgabe durch klare Anweisungen der Lehrenden reduzieren. Je spezifischer die Anweisungen und Hinweise sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit zur Prokrastination.
Ist Prokrastination eine psychische Störung?
Prokrastination ist für sich noch keine psychische Störung, deshalb kann sie nicht entsprechend der internationalen Klassifikationen diagnostiziert werden. Trotzdem ist ausgeprägtes Aufschieben behandlungsbedürftig. Denn Betroffene haben große Schwierigkeiten im Alltag. Außerdem kann das ständige Aufschieben andere psychische und körperliche Leiden nach sich ziehen.
Menschen, die mit ihren Alltagsaufgaben nicht zurechtkommen und es immer wieder nicht schaffen, pünktlich abzuliefern, enttäuschen sich selbst und andere. Das kann zu depressiven Verstimmungen oder anderen dysfunktionalen Denk- und Verhaltensweisen führen.
Insgesamt sind Betroffene oft gestresst, haben häufiger Depressionen oder Angststörungen und leiden vermehrt unter Einsamkeit und Erschöpfung, wie Forscher der Universität Mainz in einer Untersuchung festgestellt haben. Auch eine Studie der Stockholmer Sophiahemmet-Universität in Schweden aus dem Jahr 2023 kommt zu diesem Ergebnis.
Oft gehen mit der Prokrastination auch Symptome und Störungen wie Aufmerksamkeitsdefizite, posttraumatische Belastungsstörungen oder Anpassungsschwierigkeiten einher. Betroffene können aber auch unter körperlichen Symptomen wie Schlafstörungen, Kopf- und Magenschmerzen oder Kreislaufproblemen leiden.
Aufschieben als Symptom einer psychischen Störung
Prokrastination tritt auch als Teil einer diagnostizierbaren psychischen Störung, zum Beispiel bei Depression, Angststörung oder Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) auf. In solchen Fällen ist die Behandlung der primären psychischen Störung die Voraussetzung für die Behebung der Arbeitsstörung. Chronisches Aufschieben beeinträchtigt allerdings auch das psychische Wohlbefinden und kann selbst zur Ursache für andere psychische Belastungen und Symptome werden.
Wer aufschiebt, ist oft unzufrieden und schämt sich. Manche leiden unter einer inneren Unruhe oder großem Druck, viele fühlen sich hilflos, sind ständig angespannt und gestresst. Nicht selten versuchen Betroffene, sich beispielsweise mit Alkohol oder anderen Substanzen zu beruhigen oder sich durch exzessiven Medienkonsum abzulenken.
Formen der Prokrastination
Manche erleben Prokrastination lediglich als ein aus den Fugen geratenes oder unkonventionelles Selbstmanagement. Bei anderen steckt viel mehr dahinter und es ist oftmals schwierig herauszufinden, was es ist.
Die Wissenschaft unterscheidet verschiedene Aufschiebe-Kategorien. State procrastination bedeutet, dass in einer bestimmten Situation ein Motivationskonflikt auftaucht. Der Betroffene ist sich nicht sicher, ob er eine bestimmte Aufgabe zu einer gegebenen Zeit erledigen möchte. Trait procrastination bezeichnet dagegen ein Persönlichkeitsmerkmal. Der Betroffene ist also insgesamt weniger gewissenhaft.
Aktive und passive Prokrastination
Außerdem wird unterschieden zwischen aktiver und passiver Prokrastination. Demnach prokrastinieren Menschen aktiv, wenn sie ihre Aufgaben bewusst aufschieben, um sich selbst unter Druck zu setzen. Dieser Druck lässt sie dann besser arbeiten. Diese Form des Aufschiebens wird auch als arousal procrastination bezeichnet, weil manche Menschen es als aktivierend oder aufregend empfinden, wenn sie unter Druck stehen. Arousal kommt aus dem Englischen und bedeutet auf Deutsch Anregung oder Erregung.
Bei der passiven Prokrastination ist es dagegen keine bewusste Entscheidung, die Betroffene treffen, sondern sie fühlen sich einfach nicht imstande, mit ihren Aufgaben zu beginnen, geschweige denn sie innerhalb der vorgegebenen Zeit zu Ende zu führen.
In der Forschung ist die Unterteilung zwischen aktiver und passiver Prokrastination allerdings umstritten. Während Forscher wie Fred Rist, Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Münster, davon sprechen, dass aktive Prokrastination auch dazu beitragen könne, sinnvolle Prioritäten zu setzen, geht Margarita Engbertig, Psychologin und Prokrastinationsforscherin an der Universität Münster, davon aus, dass Menschen, die prokrastinieren, immer einen Nachteil durch ihr Verhalten erleiden.
In der Forschung wird Prokrastination meist unter dem Aspekt betrachtet, dass dieses Verhalten Menschen daran hindert, ihr Leben erfolgreich zu meistern.
Task Paralysis: Wie gelähmt
Im Zusammenhang mit Prokrastination spricht Fred Rister auch von Task Paralysis, womit er eine besondere Form der Blockade beschreibt: Man sitzt vor einer Aufgabe passiv und wie gelähmt da, ohne damit richtig beginnen zu können.