Pandemie und Psyche (Seite 6/8)

Häusliche Gewalt während der Corona-Krise

Die aktuellen strengen Ausgangsbeschränkungen erhöhen das Risiko für Frauen und Kinder, Opfer von gewalttätigen Übergriffen im häuslichen Umfeld zu werden. Dies zeigt eine repräsentative Studie der Technischen Universität München, die im Zeitraum von Ende April bis Anfang Mai 2020 durchgeführt wurde.

So fielen rund drei Prozent der Frauen in Deutschland in dieser Zeit körperlicher Gewalt zum Opfer, weitere 3,6 Prozent erlebten sexuelle Gewalt durch den Partner. In 6,5 Prozent aller Haushalte wurden auch Kinder körperlich verletzt. Laut Studie erhöhten eine Reihe von Faktoren das Gewaltpotenzial. Dazu zählten Angst, Depressionen, Kurzarbeit oder Arbeitsplatzverlust des Partners, im Haushalt lebende Kinder unter zehn Jahren, Finanzsorgen und Quarantäne-Zeit der Frauen.

Die wenigen vorherigen Studien zu körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt in Deutschland zeigten ein recht hohes Alltagsniveau auf: An fast jedem dritten Tag des Jahres 2019 ist statistisch betrachtet eine Frau durch Einwirkung ihres Partners oder Ex-Partners gestorben. Umgerechnet wird alle 45 Minuten eine Frau durch ihren Partner verletzt oder angegriffen.

Die Studie der Technischen Universität München belegt auch, dass während der Corona-Krise mehr Frauen Opfer von häuslicher Gewalt werden.

Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamts schließt nicht aus, „dass solche psychischen Stressfaktoren zur Erhöhung häuslicher Gewalt führen, die wir nicht sehen können". Aufgrund des Lockdown gäbe es viel weniger soziale Kontakte.

Neben tatsächlich ausgeübter körperlicher und sexueller Gewalt waren laut der Frühjahrserfassung 2020 genau 3,8 Prozent der Frauen emotionaler Gewalt durch ihren Partner ausgesetzt. 2,2 Prozent durften ihr Haus nicht ohne Erlaubnis verlassen. In 4,6 Prozent der Fälle regulierte der Partner Kontaktaufnahmen der Frauen mit anderen Personen, auch digitale, etwa über Messenger-Dienste.

Nur ein geringer Teil der von den verschiedenen Gewaltformen Betroffenen nutzte Hilfsangebote, obwohl bekannt war, wo Unterstützung zu bekommen wäre. Experten gehen auch von einer hohen Dunkelziffer aus, da nicht jeder Fall zur Anzeige gebracht werde.

Rettungsanker Hilfetelefon

Das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist eine wichtige erste Anlaufstelle für Frauen, die Opfer von Gewalt sind oder fürchten, es zu werden. Rund um die Uhr sind die Beraterinnen des Hilfetelefons unter der kostenlosen Telefonnummer 08000-116016 erreichbar.

Dabei nahmen die Anfragen zu häuslicher Gewalt überproportional zu: Alle 22 Minuten fand im vergangenen Jahr eine Beratung dazu statt. Das ist ein zentrales Ergebnis des Jahresberichts 2020 des Hilfetelefons, der im Mai 2021 veröffentlicht wurde. Die hohe Zahl an Beratungen macht deutlich, wie groß der Hilfebedarf ist, obwohl man von einem noch größeren Dunkelfeld bei Gewalttaten gegen Frauen ausgehen muss.

Akute Krisen und Verletzungen in konkreten Gefährdungssituationen mehrten sich, sodass die Beratungen zeitintensiver waren und in vielen Fällen sofortige Hilfe über die Polizei oder Rettungskräfte organisiert werden musste.

Um 21 Prozent stieg auch die Anzahl von Menschen aus dem sozialen Umfeld betroffener Frauen, die Rat und Unterstützung beim Hilfetelefon suchten. Viele berichteten, dass sie seit dem Lockdown mehr Zeit zuhause verbringen und dadurch häufiger Zeug*innen von Gewaltausbrüchen in der Nachbarschaft werden.

Die Nachfrage an fremdsprachiger Beratung stieg um 25 Prozent, was eine schwierigere Situation von Frauen mit Migrationserfahrung in der Pandemie vermuten lässt. Die Beratungen per E-Mail oder Chat stiegen um 15 Prozent. Gerade bei häuslicher Enge und Isolation stellen Online-Kontaktwege eine wichtige Alternative zum Telefon dar.

Psychische und physische Gewalt an Kindern

Die vom Bundesfamilienministerium initiierte Kinderschutzhotline vermeldet seit der Corona-Krise einen starken Anstieg von Anrufen. Allein in den ersten beiden Maiwochen nutzte medizinisches Personal im Frühjahr 2020 in mehr als 50 Fällen die Hotline. Das entspricht fast der Gesamtzahl des gesamten vorhergehenden Monats. Experten führen diese Tatsache auf vermehrte Gewaltausbrüche innerhalb der Familie zurück. Familien seien durch Ausgangsbeschränkungen und über Wochen geschlossene Schulen und Kindertagesstätten Extremsituationen ausgesetzt. In diesen Fällen ist das Zuhause kein sicherer Rückzugsort, sondern dort werden Menschen gewalttätigen Familienmitgliedern ausgesetzt. Dies geht oftmals zu Lasten der Schwächsten der Gesellschaft, der Kinder.

Soforthilfe für Frauen, Kinder und Jugendliche

Beim Verdacht auf Kindesmisshandlung sollte man grundsätzlich rasch handeln, um das Kind zu schützen. Der erste Schritt ist, das Kind ernst zu nehmen und empfindsam Fragen zu stellen. Im zweiten Schritt gilt es, nicht selbst zu ermitteln. Schalten Sie Fachleute von Beratungsstellen, Jugendämtern oder auch die Polizei ein, notfalls auch anonym.

  • Das Hilfetelefon - Gewalt gegen Frauen berät unter der Telefonnummer 08000 116 016 und auch online kostenfrei und anonym Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr. Auch Angehörige, Freundinnen und Freunde sowie Fachkräfte werden anonym und kostenfrei beraten.
  • Mit dem Codewort „Maske 19“ können Frauen, die Opfer von Gewalt sind, in Kliniken, Apotheken und Arztpraxen geschützt auf ihre Situation aufmerksam machen. Frauen, die in den entsprechend gekennzeichneten Anlaufstellen mit diesem Codewort um Hilfe bitten, werden diskret Beiseite genommen. Auf Wunsch der Frau verständigen die Mitarbeitenden in der Apotheke oder Klinik die Polizei.
  • Bereits während der ersten Welle der Corona-Pandemie wurde dieses Codewort in Spanien, Frankreich, Belgien, Griechenland und in den Niederlanden eingesetzt. Die internationale Initiative geht auf das Frauennetzwerk Zonta zurück und ist im November 2020 bei der deutschen Organisation Zonta umgesetzt worden.
  • Kinderschutz-Zentren: https://www.kinderschutz-zentren.org/kinderschutz-zentren/
  • N.I.N.A. e.V. bundesweites Hilfetelefon und Online-Beratung für Angehörige und Opfer von sexueller Gewalt und sexuellem Missbrauch: 0800 22 55 530
    • beratung@hilfetelefon-missbrauch.de
    • montags, mittwochs und freitags von 9 Uhr bis 14 Uhr
    • dienstags und donnerstags von 15 Uhr bis 20 Uhr
  • Das Berta Hilfetelefon ist eine bundesweite, kostenlose und anonyme Beratung und telefonische Anlaufstelle für Betroffene organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt. Es ist unter der Rufnummer 0800 30 50 750 zu den folgenden Uhrzeiten zu erreichen.
    • dienstags von 16 Uhr bis 20 Uhr
    • freitags von 9 Uhr bis 13 Uhr
  • Die Kinderschutzhotline 0800 19 210 00 ist ein telefonisches Beratungsangebot für Angehörige der Heilberufe, Kinder- und Jugendhilfe und Familiengerichte bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Kindesmissbrauch.

Bitte recherchieren Sie Ihre regionale Kinderschutznummer in Telefonbüchern oder im Internet in der Freitextsuche „Kinderschutz Nummer“ mit Postleitzahl. Rufen Sie im Zweifel immer Hilfe!