Gesund und stabil trotz Krisen und Krisenstimmung

25.11.2024 Von Angelika Völkel

Leonie S. ist verzweifelt. Die 39-Jährige sieht zurzeit keine Zukunft für sich. In ihrem Job als Sozialarbeiterin begleitet sie viele zerrüttete Familien. Bei ihren Hausbesuchen hat sie schon schlimme Dinge erleben müssen: Da fliegen Windeln durchs Wohnzimmer, da erzählen Frauen, dass sie nur deshalb ein weiteres Kind bekommen, damit der Fluss der Sozialleistungen nicht abreißt. Sie fühlt sich zurzeit davon so belastet, dass sie sich nicht vorstellen kann, einmal selbst Kinder zu bekommen. Und dann ist da ja noch der Klimawandel! Sie denkt, dass sie persönlich schuld daran ist, dass die Natur zugrunde geht, weil sie doch ab und zu mit dem Auto fährt und im vergangenen Urlaub ist sie sogar nach Mexiko geflogen. Sie geht davon aus, dass der Untergang gesetzt ist: Klimawandel, illegale Migration und vieles mehr verhindern, dass sie frohen Mutes durch ihr Leben geht.

Eine Freundin riet ihr vor kurzem, doch einfach selbst etwas Gutes zu unternehmen, anstatt immer deprimierter zu werden. Immerhin ließ sie sich dazu überreden, an einem Gartenprojekt teilzunehmen. Da sie ihren Teil dazu beitragen muss, braucht sie ihre freien Samstage nun, um zu gärtnern. Der Umgang mit den anderen Projektteilnehmer:innen lenkt sie von ihren Grübeleien ab. Außerdem durfte sie feststellen, dass sie ein Händchen für diese Arbeit hat. Samstags kehrt sie nun immer sehr zufrieden nach Hause zurück.Im Gartenprojekt lernt sie außerdem zufällig eine als Coach tätige Psychologin  kennen. Diese erzählt ihr von Möglichkeiten und Wegen, sich durch Beratung und Coaching „ein dickeres Fell“ zuzulegen. Die Vorschläge sprechen Leonie so sehr an, dass sie schon bald regelmäßig zum Coaching geht.

Nach wenigen Wochen fühlt sie sich bereits etwas gestärkt und bittet die Personalabteilung ihres Arbeitgebers um ein Gespräch. Darin teilt sie ihrem Arbeitgeber mit, dass die aktuellen Arbeitsbedingungen mit sehr vielen Überstunden für sie zu belastend sind und sie einen Jobwechsel in Erwägung zieht, obwohl sie ihren Job eigentlich liebt.

Gemeinsam mit der Personalerin erarbeitet sie einen Fahrplan, der Leonie dauerhaft entlasten und ihr mehr Zeit zur Regeneration ermöglichen soll. In den nächsten zwei Monaten kann sie sich jeden Mittwoch freinehmen und so die angehäuften Überstunden „Abbummeln.“ Für die Zeit danach vereinbaren sie eine leichte Reduzierung der Arbeitszeit um 4 Wochenstunden, sodass Leonie jeden Mittwochnachmittag frei hat. Darüber hinaus legen sie fest, dass Leonie die Berichte über ihre „Klienten“ bei freier Zeiteinteilung im Homeoffice schreiben kann, wenn sie keine Außentermine hat. Das spart ihr viele Kilometer „Fahrerei“ und zahlreiche verlorene Stunden im Stau.

Die „gewonnene“ Zeit nutzt Leonie für mehr Sport und häufigere gemeinsame Aktivitäten mit ihren Freund:innen. Das stärkt sie weiter und führt zunehmend zur Reduzierung ihres Stress-Levels. Langsam blickt sie wieder optimistisch in ihre persönliche Zukunft und die globalen Krisen verlieren im Alltag etwas an Bedeutung.*

Krisenstimmung und Zukunftsangst

Empfinden Menschen Krisen heute bedrohlicher?

Der Klimawandel, die Flüchtlingskrise, die Pandemie, die Kriege, die näher an Europa herangerückt sind, die steigenden Lebenshaltungskosten, die Energiekrise und vieles mehr verunsichern die Menschen in unserem Land. Gerade bei vielen jungen Menschen geht die Verunsicherung sogar so weit, dass sie denken, sie seien persönlich schuld an den ganzen Problemen. Diese Schuldzuweisung lähmt und kann auf Dauer auch psychisch krank machen.

Krisen gab es schon immer

Die Kubakrise in den 60ern des vergangenen Jahrhunderts löste beinahe einen Atomkrieg aus, die politischen Unruhen in den 70er Jahren erschütterten das Fundament der Bundesrepublik, das atomare Wettrüsten in den 80er Jahren und auch das Waldsterben ließen viele Menschen an einer hoffnungsvollen Zukunft zweifeln, die verschiedenen Finanzkrisen in den 2000-er Jahren mit ihren Folgen vor allem für die wirtschaftlich schwächeren Menschen belasteten den Arbeitsmarkt.

Neu ist gleichzeitige Verflechtung und Überlagerung verschiedener Krisenherde

Die Welt erlebt derzeit eine Verflechtung vieler weltweiter Krisen. Dies ist das Ergebnis einer neuen Studie, die von einem internationalen Team von Forschenden, darunter Johan Rockström, Direktor am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, verfasst wurde. Eine globale Polykrise, wie das Phänomen mit Fachbegriff heißt, kann entstehen, wenn kurzfristige und schnelllebige Auslöser wie politische Unruhen, starke Preisanstiege oder klimatische Extremereignisse mit langsameren und dauerhafteren Belastungen wie wachsenden sozioökonomischen Ungleichheiten oder der Klimaerwärmung kombiniert werden, erklären die Forschenden.

Globale Polykrisen mindern das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz

Diese Entwicklungen können ein globales System wie die Nahrungsmittelproduktion, die globale Sicherheit oder die Finanzmärkte aus dem Gleichgewicht bringen und in eine Krise stürzen. In Verbindung mit anderen kriselnden globalen Systemen kann eine Polykrise entstehen, die nach Ansicht der Autoren als Ganzes und nicht isoliert verstanden und gelöst werden sollte.

Diese globale Krise unterscheidet sich damit in zwei zentralen Punkten grundlegend von den vergangenen Krisen: Diese aktuelle Überlagerung verschiedenster Notlagen ist völlig neu in der Geschichte der Bundesrepublik. Dazu kommt, dass sehr viele Menschen daran zweifeln, ob Probleme wie der Ukraine-Krieg oder der Klimawandel überhaupt gelöst werden können.  

Eine repräsentative Studie der Tui-Stiftung ergab: Von 7000 befragten 16- bis 26-Jährigen in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland und Polen glauben nur 22 Prozent, dass es ihnen einmal besser gehen wird als ihren Eltern.

Mehr Menschen sind heute direkt von Krisen betroffen

„Die aktuellen Krisen kommen näher“, sagt Simon Schnetzer im Gespräch mit therapie.de. Der studierte Volkswirt führt regelmäßig mit seinen Kollegen Kilian Hampel und Klaus Hurrelmann Trendstudien, die vor allem junge Menschen im Blick haben, durch. „Da hat jemand Verwandte aus dem Ahrtal, wo vor drei Jahren eine Flut wütete und Menschen ums Leben gekommen sind. Junge Menschen, die sich beim Technischen Hilfswerk (THW) engagieren und in Deutschland Kriseneinsatzhelfer sind, erleben die Folgen des Klimawandels plötzlich hautnah und spätestens im Jahre 2015 sind Flüchtlinge in jedem deutschen Dorf angekommen.“

Der THW ist die deutsche Zivil- und Katastrophenschutzorganisation des Bundes mit ehrenamtlichen Helfern und hauptamtlichen Mitarbeitern. „Es ist natürlich ein Unterschied, ob ich einen Flüchtling sehe oder Radioaktivität unsichtbar um mich herum ist. Nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl hieß es beispielsweise, dass man nicht hinausgehen und keine Pilze essen dürfe. Doch viele Menschen in Deutschland haben nicht darauf gehört, weil sie die Konsequenzen nicht sofort gespürt haben“, sagt der 45-jährige Jugendforscher.


*Fallbeispiel aus eigener Praxis

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