Einsamkeit (Seite 4/7)
Gruppenzugehörigkeit hält und macht gesund
Die psychische und körperliche Gesundheit wird entscheidend dadurch beeinflusst, ob sich jemand ausreichend mit anderen Menschen verbunden fühlt. Der Münchner Bindungsforscher Karl-Heinz Brisch vergleicht die Funktion von emotionaler Versorgung und positiven Gefühlserlebnissen in Beziehungen sogar mit der von Vitaminen. Sie seien lebensnotwendig und wir können sie nicht selbst herstellen. Menschen sind also aufeinander angewiesen.
Doch Gruppen sind oft mehr als die Summe der einzelnen Mitglieder. In Gruppen können sich gemeinsame Ideen, Überzeugungen und Verhaltensmuster entwickeln. Es kann sogar eine gemeinsame Sicht auf die Welt entstehen.
Die soziale Identität ist etwas anderes als unsere persönliche Identität. Letztere bezieht sich auf unser Wissen um unsere Individualität, also unsere einmalige körperliche Erscheinung, unsere bestimmten persönlichen Talente oder Vorlieben. Als Mitglied einer gut funktionierenden Gruppe erkennen wir Ähnlichkeiten und vergleichbare Ziele. Das Zusammensein mit Menschen, die ähnliche Interessen, Vorlieben, Hobbys und Werte haben wie wir, wirkt sinnstiftend. Diese Erfahrung beugt innerer Leere vor, indem sie unser Grundgefühl stärkt, also unseren Kohärenzsinn, dass sich in unserem Leben alles zu einem guten Ganzen fügt.
Gleichzeitig wird im Gruppenalltag unser Selbstvertrauen gestärkt. Dies geschieht immer dann, wenn beispielsweise unser Team bestimmte Ziele erreicht, weil wir diese Gruppenerfolge dann auch als persönliche Leistungen verbuchen. Auf diese Weise steigt ebenfalls das Kontrollempfinden, weil sich Menschen in einer Gruppe als mächtige Mitgestalter betrachten können. Dieses subjektive Gefühl, im Leben etwas bewirken zu können, nennen Psychologen Selbstwirksamkeit. Experten zählen sie zusammen mit dem Kohärenzsinn zu den Grundpfeilern unserer psychischen Gesundheit.
Die Psychoanalytikerin und emeritierte Psychologieprofessorin Eva Jaeggi schreibt in ihrem Buch „Wer bin ich? Frag doch die anderen!“, dass man die anderen brauche, die uns sagen würden, wer wir sind. Denn die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe berührt jeweils auch das Gefühl für die eigene Person. Erst in der Gemeinschaft mit und in der Abgrenzung zu anderen entdeckt ein Mensch seine Individualität.
Gemeinschaften, denen man sich wirklich zugehörig fühlt, geben Halt und fangen in Krisenzeiten auf, sie machen Menschen belastbarer und widerstandsfähiger. Es gibt Studien, die belegen, dass Menschen, die eine depressive Episode erlitten, sich bereits vorher einsam fühlten und von anderen zurückzogen. Die Vereinsamung ist also nicht nur ein Symptom der Depression, sie begünstigt diese Krankheit auch. Gemeinschaften können eine gute vorbeugende Maßnahme sein. Wer beispielsweise in einen Chor oder nachbarschaftlich fest eingebunden ist, hat ein geringeres Risiko, erstmals an einer Depression zu erkranken oder nach einer überstandenen Depression wieder depressiv zu werden. Selbst wer nur einer einzigen Gruppe angehört, senkt die Wahrscheinlichkeit, erneut an einer Depression zu erkranken, von 41 auf 31 Prozent. Wer Mitglied mehrerer Gruppen ist, kann das Depressionsrisiko sogar noch weiter senken.
In Gruppen gebundene Schlaganfallpatienten erholen sich schneller
Jolanda Jetten, Psychologieprofessorin an der Universität von Queensland in Australien und Mitwirkende des social cure-Forschungsteams haben verschiedene Kriterien herausgefunden, die wichtig sind, damit eine Mitgliedschaft in einer Gruppe gesundheitsförderlich wirkt. Eines der Kriterien ist, dass eine Gruppe eine persönliche Bedeutung hat, dass man sich mit den Anliegen oder Themen der Mitglieder identifiziert und ein Gemeinschaftsgefühl entsteht.
Wichtig für die positive Wirkung der Gruppe ist auch, dass die Gepflogenheiten und Verhaltensweisen innerhalb der Gruppe gesundheitsförderlich sind. Wer beispielsweise mit seinen Kumpels am Stammtisch regelmäßig ein Bier nach dem anderen trinkt, wird weniger an Stabilität gewinnen und seiner Gesundheit eher schaden. Die unterschiedlichen Gruppen, denen man angehört, sollten außerdem in ihren Zielen und Werten übereinstimmen. So würde es beispielsweise gut zusammenpassen, einerseits Mitglied einer Laufgruppe zu sein und andererseits einem Umweltverein anzugehören.
Partnerschaft und Freundschaften sind gut, sagen die zum Thema forschenden Psychologen, können aber ein reiches Gruppenleben nicht ersetzen. Denn es kommt nicht auf die Zahl der sozialen Begegnungen an, sondern auf das Gefühl der Gemeinschaft und Zugehörigkeit.
In einer Studie mit britischen Erstsemestern sagte die Zahl der vor Studienbeginn frequentierten Clubs, Vereine und sonstigen Gemeinschaften zuverlässig voraus, wie gut sich die Studenten an die neuen Herausforderungen anpassen würden. Je mehr Gruppen jemand in der Schulzeit angehört hatte, desto wohler fühlte er oder sie sich an der Universität, unabhängig von den dort zu bewältigenden akademischen oder finanziellen Hürden.
In einer anderen Untersuchung zeigten Schlaganfallpatienten eine deutlich höhere Lebenszufriedenheit, wenn sie vor dem Vorfall mehreren Gruppen angehört hatten.
Eine Reihe von Studien aus verschiedenen Ländern belegt, dass gläubige Menschen tendenziell glücklicher sind als atheistische Zeitgenossen. Forscher schreiben dies zu einem nicht unerheblichen Teil dem Gruppenerleben und vielfältigen Rückhalt zu, die beispielsweise eine Kirchengemeinde bieten kann.
Auch einer Gewerkschaft anzugehören steigert die Lebensqualität, wie eine aktuelle US-amerikanische Studie mit Daten aus mehr als zwei Jahrzehnten belegt. Der Effekt sei groß, betonen die beiden Autoren Patrick Flavin von der Baylor University in Waco und Gregory Shufeldt von der University of Arkansas in Little Roc. Gewerkschaftsmitglied zu sein erhöhe die Lebenszufriedenheit stärker, als auf die nächste Gehaltsstufe zu klettern. Neben anderen Vorteilen genießen organisierte Arbeitnehmer zahlreiche Möglichkeiten gemeinsamer Aktivitäten, die Einsamkeit und Isolation entgegenwirken, so lautet ihre Erklärung.
Wer vielen Gruppen angehört, leidet nach einem Unfall oder einer schweren Verletzung weniger unter posttraumatischen Stresssymptomen, das ist wissenschaftlich belegt. Menschen, die einem engmaschigen sozialen Netzwerk angehören, sind auch weniger anfällig für grippale Infekte. Und im höheren Alter bremst intensives Engagement in einem gemeinnützigen Verein oder der Nachbarschaft das Nachlassen der Gedächtnisleistung.
Manche Forscher betrachten ein befriedigendes Gruppenleben bereits als soziales Heilmittel, das eine ebenso wichtige Rolle spielen sollte wie medizinische Versorgung, gesunde Ernährung und ausreichende Bewegung.
Von Aktivitäten im Verbund profitieren offenbar jene Menschen besonders, die ein erhöhtes Risiko für Depressionen haben oder bereits erkrankt sind. Unter der Leitung der klinischen Psychologin Tegan Cruwys analysierten australische und britische Forscher der Universitäten Queensland und Exeter Daten von rund 4000 Engländern und Engländerinnen im Alter von über 50 Jahren. Diese waren im Rahmen der English Longitudinal Study of Ageing (ELSA) regelmäßig unter anderem über ihr Sozialleben und ihre Gesundheitssituation befragt worden.
Bei Nichtdepressiven reduzierte der Beitritt zu mehreren Gruppen das Risiko, an der Störung zu erkranken. Und wer bereits unter einer Depression litt, erholte sich besser, wenn er sein Netzwerk vergrößerte. Bei Depressiven, die zunächst keiner Gemeinschaft angehört hatten und dann einem Club oder anderen Kreis beitraten, ging das Rückfallrisiko von 41 auf 31 Prozent zurück; bei drei neuen Mitgliedschaften sank es sogar auf 15 Prozent.
Die Überlegenheit von Gruppenkontakten zeigt sich auch beim Kampf gegen den Alterungsprozess, wie eine Studie von Catherine Haslam und Kollegen von der Universität Queensland ebenfalls auf Basis von ELSA-Daten belegt. Bei Frauen und Männern, die sich in Sportvereinen, Lesezirkeln oder anderen Kollektiven engagierten, blieben die Leistungen in Gedächtnistests über die Jahre tendenziell stabiler als bei Gruppenmuffeln.
Individuelle Sozialkontakte, zum Beispiel regelmäßige Aktivitäten mit den erwachsenen Kindern und Enkeln oder häufige Treffen mit einer Nachbarin oder einem Freund, konnten das Nachlassen der kognitiven Fähigkeiten nicht so gut aufhalten.
Keine Zeit in unpassender Gesellschaft vergeuden
Das heißt aber nicht, dass in Gruppen immer alles gut läuft. In manchen wird dauernd gestritten, um Macht gerangelt, oder es fehlt an gegenseitiger Wertschätzung. Wichtig ist es deshalb, nicht zu viel Zeit in unpassender Gesellschaft zu verbringen. Es könnte sogar ein Risikofaktor für Einsamkeit sein, wenn man von Menschen umgeben ist, die eine ganz andere Weltsicht haben und anders fühlen als man selbst. Aus der psychologischen Forschung ist bekannt, dass es Menschen stärkt und sie sich sicherer fühlen, wenn die Welt um sie herum die Dinge ähnlich sieht wie sie selbst.
Menschen, die sich einsam fühlen, verarbeiten offenbar ihre Eindrücke auf andere Weise als diejenigen, die sich nicht einsam fühlen. Diese ganz eigene Art, mit Informationen umzugehen, kann dazu führen, dass man sich dauerhaft unverstanden fühlt.
Im Rahmen einer Studie wurden 66 Personen gebeten, sich in ein MRT-Gerät zu legen. Dort wurden ihnen Videos gezeigt, die verschieden interpretiert werden konnten. Während sich die Personen die Videos ansahen, wurden die Aktivitäten in ihren Gehirnarealen aufgezeichnet. Außerdem füllten die Probandinnen und Probanden verschiedene Fragebögen aus, die Aufschluss über ihre soziale Situation und das Erleben von Einsamkeit gaben. Die beobachteten neuronalen Gehirnaktivitäten der Einsamen waren sehr unterschiedlich, dagegen ähnelten sich die der nicht einsamen Teilnehmenden deutlich.
Welche Gruppe passt zu mir?
1. Wenn Sie sich isoliert fühlen, schließen Sie sich einer Gruppe an. Wenn möglich sogar mehreren. Damit Gruppen als soziale Medizin wirken, muss es sich aber um eine Gemeinschaft handeln, mit der Sie sich identifizieren können. Bei der Suche sollten Sie sich an Ihren Interessen orientieren: Sport, Spiele, der Austausch über Kunst und Kultur oder Natur, politisches oder soziales Engagement.
2. Machen Sie eine Bestandsaufnahme: Inwieweit sind meine Bedürfnisse durch die Gemeinschaften, in denen ich schon bin, abgedeckt? Sorgen sie dafür, dass ich mich zugehörig und aufgehoben fühle? Erhalte ich bei Bedarf genügend Unterstützung?
3. Wenn Sie in einer Krise sind, halten Sie möglichst an den Gruppen fest, in denen Sie integriert sind. Die Gefahr ist, dass uns in Zeiten von Krisen und Umbrüchen die regelmäßigen Treffs mit anderen oft als zusätzliche Last erscheinen. Doch gerade dann sind die gewohnten Gemeinschaften eine wirksame Medizin. Denn in den Gruppen können wir auftanken, Unterstützung erfahren, unser Leid teilen und weiter am Leben teilhaben.
4. Nehmen Sie Unterstützung aus der Gruppe an. Helfen Sie auch anderen in der Gruppe, denn auch selbst zu helfen, tut gut. Erwarten Sie aber nicht, dass die Gruppe Ihre Probleme löst. Holen Sie sich insbesondere bei gesundheitlichen und psychischen Leiden professionelle Hilfe
Sind Online-Gruppen genauso gut?
Gerade für ältere Menschen, die nicht mehr so mobil sind, kann das Internet eine Möglichkeit sein, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, ohne das Haus verlassen zu müssen.
Fabio Sani, Professor für Sozial- und Gesundheitspsychologie an der Universität in Dundee in Großbritannien, konnte belegen, dass Onlinegruppen nicht anders als reale Gruppen funktionierten. Menschen, die sich als Mitglied mit einer virtuellen Gemeinschaft identifizieren, leiden weniger unter Depressionen als jene, die zwar zu einer Onlinegruppe gehören, sie aber nicht als persönlich wichtig empfinden.