Psychosoziale Folgen von Jobverlust und Arbeitslosigkeit (Seite 6/7)

Hintergründe zur Arbeitslosigkeit

  1. Entstehung von Arbeitslosigkeit als gesellschaftliches Problem
  2. Funktionen von Arbeit, Arbeitslosigkeit und soziale Integration
  3. Arbeitslosigkeit und Psyche
  4. Erfolgreiche Interventionspro­gramme

Entstehung von Arbeitslosigkeit als gesellschaftliches Problem

Entsprechend einer Art „Mainstream“ der volkswirtschaftlichen Theorie entsteht Arbeitslosigkeit im Zusammenhang der Ansprüche großer gesellschaftlicher Gruppen bei der Aneignung des Sozialprodukts: Unternehmen sind stets bestrebt, ihren Gewinn zu erhöhen und Arbeitnehmer wollen ein möglichst großes Einkommen bei möglichst angenehmen Arbeitsbedingungen erzielen. Bei niedriger Arbeitslosigkeit oder Vollbeschäftigung schaffen Unternehmen finanzielle Anreize, um bei den Beschäftigten ein bestimmtes Leistungsniveau zu erwirken oder deren Wechsel zu einem anderen Unternehmen zu verhindern. Sobald mindestens ein Unternehmen nicht mehr in der Lage ist, die hohen Marktpreise für Arbeitnehmer zu bezahlen, entsteht Arbeitslosigkeit. Bestehende Arbeitslosigkeit wirkt sich auch negativ auf das Lohnniveau der Beschäftigten aus. Die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes, der Konjunkturzyklus und auch die technologische Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft in ihrer Position auf den Weltmärkten sind eng mit der nationalen Dynamik der Arbeitslosigkeit verknüpft.

Nachgefragt werden heute zunehmend qualifizierte Arbeitskräfte, während die Arbeitslosigkeit unter weniger Qualifizierten zunimmt. Die internationale Arbeitsteilung führt dazu, dass in Deutschland in erster Linie technologisch fortgeschrittene Produkte hergestellt werden. Sobald ein Produkt Standard ist, verlagert sich die Produktion in Länder mit niedrigeren Lohnkosten. Der daraus resultierende Wettlauf verlangt zusätzlich nach Hochqualifizierten. Zunehmend werden vielseitige Qualifikationen der Arbeitnehmer erforderlich, da die gesellschaftliche Arbeitsteilung aus Gründen der Flexibilität und Unabhängigkeit reduziert und ins Unternehmen re-internalisiert wird. Auch der intensive Umgang mit moderner Technologie erhöht die Anforderungen an die Arbeitnehmer. Viele Tätigkeiten, die in der Vergangenheit von gering Qualifizierten ausgeführt wurden, werden heute von Maschinen übernommen. Das persönliche Arbeitslosigkeitsrisiko eines Angestellten hängt also stark von dessen Bildungs- bzw. Ausbildungsabschluss ab. Zusätzlich bestehen in der Arbeitslosigkeit starke regionale Unterschiede. Darüber hinaus begünstigt die vorherrschende Politik mit dem Schwerpunkt der einseitigen Erhöhung der Arbeitsproduktivität die Freisetzung von Arbeitskräften in großem Umfang.

Alternative Denkmodelle, die der aktuellen Politik eine Politik der Erhöhung der Ressourcenproduktivität mit einer rationelleren Nutzung der natürlichen Ressourcen sowie einem höheren und eigenständigen Stellenwert der individuellen Arbeitstätigkeit entgegenstellen möchten, stehen demgegenüber eher noch isoliert da. Entlassungen würden durch eine solche Politik gesellschaftlich sanktioniert und damit erschwert.

Funktionen von Arbeit, Arbeitslosigkeit und soziale Integration

Die zentrale These lautet: Erwerbsarbeit hat in Arbeitsgesellschaften eine integrierende Wirkung, die weit über das reine Geldverdienen hinausgeht.

Im Wohlfahrtsstaat stehen demjenigen, der nicht auf Förderung angewiesen ist und mit seiner Erwerbsarbeit die eigene Existenz sichern kann, alle Möglichkeiten offen: Einbindung in die Wirtschaftskreisläufe von Produktion und Konsum, Strukturierung des Alltags, teilweise sinnstiftende Tätigkeit, Kommunikation und Kontakte in einem lokalen Beziehungsgeflecht jenseits der Familie sowie soziale Anerkennung.

Aber auch geförderte Arbeit kann ähnliche Effekte erzeugen, wo echte Arbeit fehlt und vorübergehend oder dauerhaft nicht erreicht werden kann. Arbeitslose zu aktivieren kann auch heißen, sie an persönlich oder gesellschaftlich sinnvollen Aktivitäten zu beteiligen, etwa um Vereinzelung und den Verlust von Strukturen im Alltag und soziale Anerkennung zu verhindern – auch, wenn nicht gleich der Übergang in den ersten Arbeitsmarkt am Horizont winkt. Eine interessante und wichtige Erfahrung für Arbeitssuchende ist auch die Weitergabe von eigenem Wissen an andere.

Gesellschaftliche Stigmatisierung und Ausgrenzung von Arbeitslosen

Beim gesellschaftlichen Wissen über Arbeitslosigkeit handelt es sich vielfach um Halbwissen, das geprägt ist durch Angst, Tabuisierung oder Panikmache. Phänomene wie Bagatellisierung, Individualisierung, Naturalisierung und Historisierung von Arbeitslosigkeit) bestimmen das Bild in und den Umgang von der Gesellschaft mit der Massenarbeitslosigkeit und den davon betroffenen Menschen. Dieses gesellschaftliche Bild wiederum bestimmt die individuelle Bewältigung der Erwerbslosigkeit direkt und indirekt Betroffener wesentlich mit.

Jemand, der arbeitslos wird oder nach einer Ausbildung einen Arbeitsplatz sucht, hat nicht nur mit den massiven Veränderungen seines Lebens zu kämpfen, die sich ohne Beschäftigung und ohne Verdienst ergeben, sondern auch mit der "gesellschaftlichen" Verurteilung eines Arbeitslosen.

Andrea M. aus F. fühlt sich auch vollkommen allein gelassen, obwohl Freunde und Verwandte ihr tatkräftig zur Seite stehen und ihr Mann Geld verdient. Von Seite des Staates sieht sie keine Unterstützung. Sie hatte gerade ihren 50. Geburtstag gefeiert, als Kurzarbeit angekündigt wurde. Wenig später war sie eine derer, die ihre Arbeit komplett verloren haben. Andrea M. macht sich wenig Hoffnung, in ihrem Alter und mit ihrer geringen oder - wie sie bei der Suche nach Stellenangeboten meint - falschen Qualifikation, jemals wieder Arbeit zu finden. Am meisten Sorge macht ihr das Bild, das andere von ihr haben, sie fürchtet, dass ihr irgendjemand unterstellen könnte, sie sei arbeitsunwillig oder ein Schmarotzer, der auf Kosten des Staates lebe. Dabei jagten ihr die Gespräche bei der Agentur für Arbeit, die Formulare und vor allem die Paragraphen und Bestimmungen zusätzlich Angst ein. Als Kundin fühlt sie sich dabei wenig wahrgenommen.

Warum fühlen sich Arbeitslose oft stigmatisiert? Welche Faktoren sorgen für eine Ausgrenzung aus dem Gesellschafts-Verbund? Findet eine gesellschaftliche Delegitimation von Arbeitslosen statt? Werden Arbeitslose negativ dargestellt, um sie sozial zu entwerten, eine Identifikation mit ihnen zu erschweren und Grenzen zwischen ihnen und der übrigen Bevölkerung zu errichten? Ist das Ziel dabei, Arbeitslose von normalen Rechten auszuschließen oder negative Maßnahmen und Verhaltensweisen zu rechtfertigen?

Bagatellisierung:

Indem die Gesamtgruppe aller Arbeitslosen anhand bestimmter Kriterien in einzelne Gruppen aufgespalten wird, von denen nur spezielle Gruppen überhaupt in der offiziellen Arbeitslosenstatistik erfasst werden, wird das wahre Ausmaß der gesellschaftlichen Spaltung zu verbergen versucht. Damit werden wachsende Gruppen von Arbeitslosen von Leistungen aber auch von der öffentlichen Wahrnehmung ausgeschlossen.

Individualisierung:

Individualisierende Schuldzuweisungen wie z.B. Arbeitslosen „Arbeitsunwilligkeit“, „zu geringe oder falsche Qualifikationen“, „zu hohe Ansprüche an einen Arbeitsplatz“ oder „bewussten Missbrauch von Sozialleistungen“ zu unterstellen, führt auf Seiten der Arbeitslosen zu einem permanenten Rechtfertigungsdruck, nicht zu der Gruppe zu gehören, die ihre Situation selbst verschuldet hat. Dieser Mechanismus betont und verschärft die Grenze zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen. Er verstärkt die soziale Stigmatisierung von Arbeitslosen und erleichtert zudem den Beschäftigten die Illusion der Kontrolle des eigenen Arbeitslosigkeitsrisikos durch Wohlverhalten aufrechtzuerhalten. Die Individualisierung macht somit aus den Opfern einer Arbeitsmarkt-Krise ihres eigenen Schicksals und nimmt den Betroffenen damit eine wesentliche Grundlage, um kollektiv politisch für die Verbesserung ihrer Situation zu kämpfen.

Naturalisierung:

Ausgrenzend wirkt auch, dass Massenarbeitslosigkeit als „von Natur gegeben betrachtet wird“ und somit aus den Bereichen der aktiven Politik ausgeschlossen und ihr somit die Sichtweise der bewussten Veränderbarkeit entzogen wird.

Historisierung:

Die Abwälzung der Gründe für die Massenarbeitslosigkeit im Deutschland der 90er Jahre auf die deutsche Vereinigung und genauer die „Erblast des sozialistischen Systems der DDR“ oder die dort konstatierte fiktive „verdeckte Arbeitslosigkeit“, ist ein gesellschaftlicher Erklärungsversuch von Arbeitslosigkeit, der die Lebensleistungen vieler Menschen massiv entwertet. Diesen Menschen wird bedeutet, dass das, was sie in ihrem bisherigen beruflichen Leben geleistet haben, sinn- und wertlos war.

Arbeitslosigkeit und Psyche

Wurden oder bleiben Erwerbslose aufgrund ihrer psychischen Labilität erwerbslos (Selektionsthese) oder ist die psychische Labilität eine Folge der Erwerbslosigkeit (Verursachungsthese)?

In den mittlerweile zahlreich vorliegenden Metaanalysen und Längsschnittuntersuchungen lassen sich sowohl Selektions- als auch Verursachungseffekte feststellen. Somit kann belegt werden, dass einerseits eine bereits vorhandene psychische Labilität Erwerbslosigkeit begünstigt und dass andererseits Erwerbslosigkeit zu einer Verschlechterung des Wohlbefindens führt.

Selektions- und Verursachungsthese: Auf der Datenbasis von 223 Studien aus westlichen Länden kann aber klar gesagt werden, dass der Verursachungseffekt deutlich stärker ausgeprägt ist als der Selektionseffekt.

Auswirkungen der Erwerbslosigkeit auf die Psyche

1. Gesicherte Befunde

Der Anteil der psychisch beeinträchtigten Personen unter den Erwerbslosen ist etwa doppelt so hoch wie unter Erwerbstätigen. Nachgewiesene psychische Folgen von Erwerbslosigkeit sind:

  • Depressivität
  • Angststörungen
  • Psychosomatische Störungen
  • Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl

Auf Grundlage der Daten von 2,4 Mio. Versicherten wird im Gesundheitsreport einer Krankenkasse konstatiert, dass bei den Erwerbslosen die Behandlungsquote mit Antidepressiva um 77% höher liegt als bei den Erwerbstätigen. Negative körperliche Stressreaktionen treten bereits in den Phasen von Arbeitsplatz-Unsicherheit auf und zwar auch bei denjenigen, die nach einem Personalabbau ihre Arbeitsstelle behalten haben.

Kinder erwerbsloser Eltern haben in höheres Risiko später selbst erwerbslos zu werden.

Erwerbslosigkeit im frühen Erwachsenenalter hat einen nachhaltigen negativen Einfluss auf die Gesundheit im späteren Erwachsenenalter.

Bei Wiederbeschäftigung gehen die psychischen Einschränkungen zurück allerdings nur, wenn die vormals Erwerbslosen nicht in so genannten "Bad Jobs" landen ("Bad Jobs" = einfach, gering bezahlt, ungesichert, unterbeschäftigt).

2. Unerwartete, widersprüchliche, wenig abgesicherte Erkenntnisse

  1. Unerwartete Ergebnisse:
    • Arbeitsorientierung:
      • Mittlere Arbeitsorientierung ist positiver für die psychische Befindlichkeit und die Wiedervermittlungschancen als eine hohe.
    • Suizid:
      • Statistische Zusammenhänge sind in Deutschland nicht zu sichern.
      • Soziale Isolation und/oder emotionale Labilität als Zusatzbedingung
  2. Wenig abgesicherte Ergebnisse:
    • Auswirkungen auf Familienmitglieder:
      • Verminderte Arbeitsidentifikation und Leistungsmotivation von Kindern erwerbsloser Eltern
      • Auswirkung von Arbeitsplatzunsicherheit auf schulische Entwicklung
    • Alkoholmissbrauch:
      • Verstärktes Auftreten von Alkoholmissbrauch bei Arbeitslosen (Verursachungsprinzip)
      • Anstieg des Alkoholkonsums mit Dauer der Arbeitslosigkeit (Intensivierungseffekt)
      • Umsteigen auf andere (preiswerter) Drogen (Expansionseffekt)
      • Erhöhtes Rückfall-Risiko nach Entzug bei Arbeitslosen
    • Zeitgestaltung (wenig abgesichert):
      • Positives Erleben der freien Zeit nur bei absehbarer befristeten und kurzfristigen Erwerbslosigkeit
      • Aktivitäten müssen als nützlich bewertet werden, damit sie positiv auf die Gesundheit wirken.
  3. Widersprüchliche und wenig abgesicherte Ergebnisse:
    • Somatische Erkrankungen
      • Ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko ist in Meta-Analysen nicht zu sichern
    • Geschlechterrolle
      • Positive „Alternativrolle Hausfrau“ für Frauen bisher wegen geringer Datenbasis nicht zu bestätigen
      • Geschlechterunterschiede vermutlich meist kofundiert mit Merkmalen der vorherigen Erwerbsarbeit, Qualifikationsniveau und Dauer der Arbeitslosigkeit (bspw. mehr Arbeitssuchverhalten bei Männern, diese sind aber höher qualifiziert und kürzer erwerbslos)

Erfolgreiche Interventionspro­gramme

Erfolgskriterien von Interventionsmaßnahmen sind die Wiedervermittlungsquote und die Verbesserung der psychischen Befindlichkeit. Die Wiedervermittlungsraten verschiedener Gruppen mit unterschiedlichsten Maßnahmen schwanken zwischen 20 und 30 Prozent. In manchen Studien wird die Vermittlung in den zweiten Arbeitsmarkt mitgewertet. Betrachtet man allerdings nur die Vermittlungsraten in den ersten Arbeitsmarkt, sind die Erfolge deutlich geringer. Darüber hinaus wurde in einer Studie des Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit festgestellt, dass nur zwei Prozent derjenigen, die in sozialen Arbeitsverhältnissen beschäftigt waren, in ein reguläres Arbeitsverhältnis übernommen wurden.

  • Das AmigA-Projekt hat für chronisch kranke Langzeitarbeitslose intensive arbeits- und gesundheitsfördernde Kurse angeboten und konnte 15% der Teilnehmer in Beschäftigung vermitteln: Modellprojekt Brandenburg, E-Mail: Antje.Kellner@arge-sgb2.de
  • Job FIT ist ein von den Betriebskrankenkassen entwickeltes Programm, das auf die Förderung der gesundheitlichen Kompetenz von Erwerbslosen setzt, um deren Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern.
  • Das Programm AktivA - Aktive Bewältigung von Arbeitslosigkeit - wurde an der TU Dresden entwickelt und hat zum Ziel, die psychosozialen Kompetenzen von Langzeitarbeitslosen zu stärken und so ihre Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten.
  • Bridges – Brücken in Arbeit wurde als Modell-Projekt zur Senkung der Jugendarbeitslosigkeit im Niederschlesischen Oberlausitzkreis entwickelt. Lausitz Matrix e.V. Görlitz
  • Über TAURIS werden in der Regel ältere Langzeitarbeitslose auf freiwilliger Basis gegen eine geringe Aufwandsentschädigung in gemeinnützigen Projekten beschäftigt. Mittels dieser seit zehn Jahren durchgeführten Maßnahme konnten im Jahr 2002 erst 16% und im Jahr 2006 bereits 21% der teilnehmenden Langzeitarbeitslosen über 50 Jahre auf den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden. www.tauris-stiftung.de
  • Aktiv-Office: Auf Initiative von Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee startete im Jahr 2006 in Leipzig ein Pilot-Projekt, das Langzeitarbeitslosen über ca. drei Jahre sinnvolle Beschäftigung anbietet und damit die Chance erhöht, auf dem regulären Arbeitsmarkt wieder Arbeit zu finden. Das Verkehrsministerium hat das Pilot-Projekt der Arbeitsgemeinschaft Leipzig (ARGE) übergeben, die es nun unter der Bezeichnung „Aktiv-Office“ in Kooperation mit den Leipziger Verkehrsbetrieben (LVB) GmbH umsetzt.
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