Zwang und Zwangsstörung (Seite 4/5)

Behandlung von Zwangs­erkrankungen

Psychotherapie kombiniert mit Medikamenten am wirksamsten

Verschiedene Studien haben gezeigt, dass eine Kombination aus einem Medikament – meist einem Antidepressivum – und einer Psychotherapie die wirksamste Therapiemethode ist. Vor allem wenn Zwangsgedanken im Vordergrund stehen, ist eine Kombinationstherapie deutlich hilfreicher, als wenn nur ein Antidepressivum oder nur eine Psychotherapie zur Anwendung kommt.

Jemand, bei dem erstmals Zwangssymptome auftreten, sollte möglichst bald eine Therapie aufsuchen. Denn zu Beginn sind die Symptome noch nicht so stark ausgeprägt und nicht so verfestigt, so dass die Erfolgschancen einer Therapie am besten sind. Allerdings ist es auch für Menschen, die schon länger an Zwängen leiden, sinnvoll, eine Therapie aufzusuchen. Insgesamt profitieren die meisten Patienten deutlich von einer geeigneten Therapie.

Man muss jedoch auch wissen, dass die Zwangssymptome durch eine Therapie häufig nicht vollständig verschwinden. Im Lauf einer Psychotherapie lernen die Betroffenen jedoch, mit verbleibenden Zwangssymptomen besser umzugehen. So berichten viele Patienten, dass sie nach der Therapie den Zwangsimpulsen besser widerstehen können oder dem Wiederauftreten der Zwänge in Stresssituationen besser entgegenwirken können.

Verhaltenstherapie

Als wirksamste Therapiemethode bei Zwangsstörungen hat sich die kognitive Verhaltenstherapie herausgestellt. In der Therapie werden zunächst zusammen mit dem Patienten Informationen zur Symptomatik und zur Lebensgeschichte gesammelt, um so die Entstehung der Zwänge besser zu verstehen. So wird zum Beispiel analysiert, wie häufig und in welchen Situationen die Zwangsgedanken und Zwangshandlungen auftreten, wodurch sie ausgelöst werden und welche Situationen jemand vermeidet, um das Auftreten von Zwängen zu verhindern. Gleichzeitig werden Informationen darüber vermittelt, wie eine Zwangsstörung entsteht und welche Faktoren sie aufrechterhalten.

Exposition mit Reaktionsverhinderung

Ein wichtiger Baustein der Verhaltenstherapie bei Zwängen ist die „Exposition mit Reaktionsverhinderung“. Dabei sollen sich die Patienten genau den Situationen aussetzen, in denen sie normalerweise große Angst und Anspannung erleben. Gleichzeitig sollen sie jede Art von Zwangshandlungen und neutralisierenden Gedanken unterlassen. Auf diese Weise können sie die Erfahrung machen, dass die befürchteten negativen Folgen in Wirklichkeit nicht eintreten.

Viele Patienten haben zunächst große Angst davor, die Zwangshandlungen bewusst zu unterlassen. Daher wird das Vorgehen in der Therapie zunächst genau besprochen und meist ein schrittweises Vorgehen vereinbart. Das heißt, es wird zunächst mit Situationen begonnen, die für den Betroffenen weniger Angst auslösend sind, und nach und nach zu schwierigeren Situationen übergegangen. Der Patient bleibt dabei in jeder Situation so lange, bis die Anspannung und Angst deutlich abgenommen haben. Manchmal führt der Therapeut das Verhalten zunächst auch modellhaft vor, um zu demonstrieren, dass dies möglich ist.

Eine Therapie, in der eine Exposition mit Reaktionsverhinderung stattfindet, führt bei 60 bis 90 Prozent der Patienten zu einer deutlichen Besserung der Symptome. In Studien wurde beobachtet, dass diese Veränderung auch ein Jahr nach der Therapie noch stabil war.

Ein Patient mit Waschzwang und der Angst, sich mit einer gefährlichen Krankheit anzustecken, fasst während der Exposition verschiedene Gegenstände an, die er als schmutzig und „kontaminiert“ ansieht. Dabei beginnt er zunächst mit Situationen, die er als leichter empfindet, zum Beispiel dem Berühren von Türklinken. Wenn die Anspannung in dieser Situation deutlich nachgelassen hat, geht er zur nächsten Situation über und soll nun zum Beispiel mit den „verschmutzten“ Händen seine Kleidung und seine Haare berühren. Auch nach den Übungen soll er die „Verschmutzung“ aushalten und zum Beispiel einen Tag lang keinerlei Gegenmaßnahmen wie Händewaschen durchführen.

Habituationstraining

Beim Habituationstraining sollen die Patienten lernen, die bedrohlichen Zwangsgedanken auszuhalten und dabei neutralisierende Gedanken so weit wie möglich zu unterlassen. Sie sollen sich dabei die bedrohlichen Zwangsgedanken (zum Beispiel eine obszöne sexuelle Vorstellung oder den Gedanken „Ich könnte meinem Kind etwas antun“) absichtlich ins Bewusstsein rufen und sich so lange damit beschäftigen, bis die Angst und Anspannung deutlich nachlassen. Bei einer ähnlichen Methode sprechen die Patienten ihre Befürchtungen auf Tonband oder MP3-Player auf und hören sich die Aufnahmen so lange an, bis ihre Anspannung deutlich nachlässt. Bei diesen Übungen sollen sie gleichzeitig alle neutralisierenden Gedanken (zum Beispiel den Gedanken „Ich bin doch ein verantwortungsvoller Mensch“ oder das Aufsagen von Glückszahlen) bewusst unterlassen.

Weitere verhaltenstherapeutische Methoden

Ein wichtiger Baustein der Verhaltenstherapie ist auch, zusammen mit dem Patienten die „Funktionalität“ der Zwänge zu verstehen. Damit ist gemeint, dass die Zwänge den Betroffenen häufig vor dem Erleben anderer, belastender Gefühle schützen. Dies wird deutlich, wenn jemand sich vorstellt, wie es wäre, wenn die Zwänge auf einmal verschwunden wären. Viele Patienten sind fast den ganzen Tag mit ihren Ritualen beschäftigt und haben kaum noch soziale Kontakte. Das Wegfallen der Zwänge kann dann zum Beispiel erkennen lassen, dass jemand ein geringes Selbstwertgefühl und Schwierigkeiten bei zwischenmenschlichen Kontakten hat. Oder es kann dazu führen, dass jemand sich wieder an frühere Schwierigkeiten erinnert und dann in eine Depression fällt. Wenn die hinter den Zwängen stehenden Probleme erkannt sind, können sie ebenfalls im Lauf der Therapie angegangen werden.

So lernen die Patienten während Therapie häufig auch, ihr Selbstwertgefühl zu stärken und mit sozialen Situationen besser umzugehen. Auch Entspannungstraining und Stressmanagement sind wichtige Bestandteile der Therapie. Sie können dazu beitragen, die allgemeine Anspannung zu verringern sowie Stress und Belastungen rechtzeitig zu erkennen und besser zu bewältigen. Dies ist wichtig, da Stress und psychische Belastungen die Zwangssymptome deutlich verstärken können. In manchen Fällen kann es auch hilfreich sein, die Familie des Patienten in die Therapie einzubeziehen, um Spannungen und Konflikte in der Familie zu erkennen und zu verändern.

Andere psychotherapeutische Ansätze

Da sich die kognitive Verhaltenstherapie – und hier insbesondere die Methode der Exposition mit Reaktionsverhinderung – als wirksamste Therapieform erwiesen hat, spielen andere Therapieansätze bei der Zwangsstörung eine geringere Rolle. So haben psychoanalytische und tiefenpsychologische Therapieverfahren bei der Behandlung der eigentlichen Zwangssymptome eine geringe Wirksamkeit gezeigt. Allerdings können andere Therapieansätze als Ergänzung oder im Anschluss an eine erfolgreiche Behandlung der Zwangssymptome zum Einsatz kommen.

Psychoanalytische und tiefenpsychologische Verfahren können zum Beispiel dazu beitragen, die psychologischen Hintergründe der Zwangssymptome – zum Beispiel unbewusste Gefühle und Phantasien – besser zu verstehen und diese zu bearbeiten. So können, wie im psychoanalytischen Modell zur Zwangsstörung beschrieben, unbewusste Ängste oder Aggressionen hinter den Zwängen stecken. Die Zwangssymptome dienen in diesem Fall dazu, den unangenehmen Gefühlen aus dem Weg zu gehen: Wenn jemand den ganzen Tag seine Wohnung putzt, muss er sich nicht mit unangenehmen Gefühlen von Einsamkeit, Angst oder Minderwertigkeit beschäftigen. Allein die Einsicht in die Hintergründe der Zwänge kann eine große Entlastung darstellen. In einer psychoanalytischen oder tiefenpsychologischen Therapie lernt der Patient auch, bisher verbotene Wünsche, Gedanken und Gefühle zu äußern. Dadurch kann er die Erfahrung machen, dass dies nicht zu den befürchteten negativen Konsequenzen führt. Weiterhin sollen in der Therapie ungünstige persönliche Einstellungen und Lebensumstände verändert werden, so dass das Auftreten von Zwangssymptomen weniger wahrscheinlich wird.

Die Einbeziehung der Familie ist vor allem dann sinnvoll, wenn Kinder oder Jugendlichen mit Zwängen behandelt werden oder wenn familiäre Konflikte bei der Entstehung oder Verschlechterung der Zwangssymptome eine Rolle spielen. Hier ist es zum einen wichtig, die Eltern über die Zwangssymptomatik aufzuklären und ihnen zu vermitteln, wie sie mit dem Verhalten des Kindes oder Jugendlichen am besten umgehen können. So kann es zum Beispiel von Bedeutung sein, dass die Eltern ihr Kind nicht unbewusst in seinem Zwangsverhalten verstärken – etwa, indem sie selbst Dinge kontrollieren oder die Wohnung besonders sauber halten, um ihr Kind zu beruhigen.

Im Rahmen familientherapeutischer bzw. systemischer Therapieansätze werden Konflikte und Rollenverteilungen innerhalb einer Familie aufgedeckt und gemeinsam mit den Familienmitgliedern bearbeitet. Dabei wird besonderer Wert auf die Ressourcen, also die Stärken und Fähigkeiten innerhalb einer Familie gelegt. Diese Therapieform kann auch dazu beitragen, die Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern zu verbessern und so erneuten Konflikten vorzubeugen.

Medikamente bei Zwängen

Wirkungen, Nebenwirkungen und mögliche Probleme

Antidepressiva

Einige Antidepressiva, die meist zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden, haben sich auch bei Zwangserkrankungen als wirksam erwiesen. Dies sind vor allem die selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI), die die Konzentration des Botenstoffes Serotonin im synaptischen Spalt zwischen den Nervenzellen erhöhen und so das „Ungleichgewicht“ dieses Botenstoffs im Gehirn verringern. Auch das trizyklische Antidepressivum Clomipramin kann die Symptome einer Zwangsstörung vermindern. Es wird jedoch seltener eingesetzt, da es mehr Nebenwirkungen als die SSRI aufweist.

Nebenwirkungen bei der Einnahme von SSRI können Magen-Darm-Beschwerden wie Übelkeit, Durchfall, Appetitlosigkeit und Erbrechen sowie Schlafstörungen und sexuelle Funktionsstörungen sein. Diese Nebenwirkungen können, müssen aber nicht auftreten. Sie sind meist in den ersten Wochen der Einnahme am stärksten ausgeprägt und gehen danach allmählich wieder zurück. Bei der Einnahme von Clomipramin können zusätzlich zu den genannten Nebenwirkungen auch Schwindel, Müdigkeit, Veränderungen des Herzschlags, Mundtrockenheit, Verstopfung und Gewichtszunahme auftreten.

Ein Unterschied zur Behandlung der Depression ist, dass SSRI bei Zwangsstörungen in einer höheren Dosierung und über einen längeren Zeitraum eingenommen werden müssen, damit eine Wirkung eintritt. Das bedeutet, dass die Betroffenen oft sechs bis zwölf Wochen warten müssen, bis eine Besserung der Zwangssymptomatik eintritt. Meist führen die Medikamente auch nicht zum völligen Verschwinden der Symptome, sondern verringern diese nur um etwa 40 bis 50 Prozent. In manchen Fällen kann es sein, dass das erste verschriebene Medikament noch keine Besserung bringt. Dann ist es sinnvoll, ein weiteres Antidepressivum auszuprobieren, da jeder auf die verschiedenen Medikamente unterschiedlich reagiert.

Da die Zwangssymptome nach einem Absetzen der Medikation bei etwa 90 Prozent der Patienten wieder zurückkehren, wird empfohlen, die Medikamente mindestens ein bis zwei Jahre einzunehmen. Ein Absetzen sollte immer in mehreren Schritten (ausschleichend) und möglichst erst nach einer erfolgreichen Verhaltenstherapie stattfinden. Häufig ist es aber auch notwendig, dass die Medikamente über einen längeren Zeitraum eingenommen werden.

Neuroleptika

In einigen wenigen Fällen wird zusätzlich zu einem Antidepressivum auch ein Neuroleptikum verordnet. Dabei kommen vor allem so genannte atypische Neuroleptika zum Einsatz, da diese weniger Nebenwirkungen als die klassischen Neuroleptika haben. Eine Kombination aus Antidepressivum und Neurolepktikum wird von Ärzten vor allem dann empfohlen, wenn die Zwangsgedanken magische Inhalte haben oder wenn die Zwänge sehr bizarr wirken. Allerdings können auch atypische Neuroleptika erhebliche Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Gewichtszunahme und hormonelle Störungen haben.

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