Transgenerationale Traumata (Seite 4/8)

Psychische und soziale Faktoren

Neben genetischen und epigenetischen Aspekten können auch verschiedene psychische und soziale Faktoren dazu beitragen, dass ein Trauma an die nächsten Generationen übertragen wird.

Verändertes Bindungsverhalten

Traumatisierte Eltern sind durch ihre Symptome wie Ängste, starken Stress oder Flashbacks oft stark belastet. Dadurch ist ihre Fähigkeit, ihre Kinder wahrzunehmen und angemessen auf ihre Bedürfnisse einzugehen, häufig eingeschränkt und sie zeigen ein eher ungünstiges Bindungsverhalten.

So haben Studien ergeben, dass Eltern mit traumatischen Erfahrungen in der Kindheit weniger Nähe zu ihren Kindern aufbauen, sich weniger sensibel und einfühlsam verhalten, weniger auf die Gefühle und Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen und für diese weniger emotional verfügbar sind.

Trauma kann Mimik, Gestik oder Verhalten verändern

Durch das Trauma können auch Mimik, Gestik, Körperhaltung und Verhalten verändert sein und es kann sein, dass ein Elternteil wenig Mimik und Gefühle zeigt. Diese fehlende Resonanz irritiert bereits kleine Kinder stark, so dass sie anfangen zu schreien und zu weinen. Weiterhin kann es sein, dass traumatisierte Eltern sich für ihr Kind unvorhersehbar verhalten. Dadurch kann es kein Gefühl von Sicherheit und Stabilität entwickeln.

Möglicherweise verhält sich die traumatisierte Mutter oder der Vater besonders ängstlich oder macht sich schnell Sorgen. Dadurch wird den Kindern vermittelt, dass ständig Gefahr droht, und sie werden häufig selbst ängstlich und unsicher. Es kann auch sein, dass zwischen Eltern und ihren Kindern eine starke Abhängigkeit entsteht.

All diese Aspekte können dazu beitragen, dass Kinder keine sicheren Bindungen aufbauen können. Dadurch haben sie ein erhöhtes Risiko, später eine psychische Störung zu entwickeln. Außerdem wird das typische Bindungsverhalten der Eltern, etwa ein unsicherer oder ein vermeidender Bindungsstil, auch an die Kinder weitergegeben. Auch das könnte zur Übertragung eines Traumas an die nächste Generation beitragen.

Gefühlserbschaft

Kinder nehmen, auch schon als Säuglinge oder Kleinkinder, zwischenmenschliche Signale ihrer Eltern sensibel wahr und reagieren emotional darauf. So können schon kleine Kinder spüren, wenn ihre Mutter oder ihr Vater verstört, ängstlich oder niedergeschlagen ist, häufig Stimmungsschwankungen hat oder Panikattacken oder Wutausbrüche erlebt. Dadurch empfindet das Kind eine große Unruhe.

Laut Psychoanalyse möchte das Kind herausfinden, was mit seiner Mutter oder seinem Vater los ist. Dadurch entwickelt es mit der Zeit innere Bilder und Vorstellungen davon, was die Mutter oder der Vater erlebt haben könnte. Diese Vorstelllungen können mehr oder weniger der Realität entsprechen.

Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder mit einem traumatisierten Elternteil, zum Beispiel Kinder von Holocaust-Überlebenden, durch viele und feine Signale ein relativ genaues Bild davon entwickeln können, was ihre Mutter oder ihr Vater in der Vergangenheit erlebt hat.

Kind nimmt Gefühle des traumatisierten Elternteils auf

Sigmund Freud verwendete auch den Begriff „Gefühlserbschaft“. Laut Freud möchte das Kind dem traumatisierten Elternteil helfen und etwas tun, um dessen emotional belastenden Zustand zu beenden. Dazu nimmt das Kind die Gefühle des traumatisierten Elternteils in sich auf, um sie zu verstehen und gleichzeitig abzuwehren.

Das Kind integriert also die Gefühle der traumatisierten Eltern in sein eigenes Erleben und „reinszeniert“ deren Gefühle und Erleben. Dabei kann das Kind aber nur erahnen, was die Eltern tatsächlich erlebt haben.

Gleichzeitig machen sich die Kinder viele Sorgen um den traumatisierten Elternteil. Sie versuchen, ihn zu trösten, und ältere Kinder kümmern sich möglicherweise stark um ihn. Man spricht dann auch von Parentifizierung. Zugleich glauben die Kinder häufig, dass sie etwas falsch gemacht haben und sie an den belastenden Gefühlen ihrer Eltern schuld sind. Häufig versuchen sie dann, dies wieder gut zu machen und passen sich stark an die Bedürfnisse ihrer Eltern an.

Wiederholung und Reinszenierung

Der psychoanalytische Ansatz geht davon aus, dass Menschen, die belastende Erfahrungen gemacht und nicht bewältigt haben, diese unbewusst wiederholen oder reinszenieren. Das kann vor allem in der Beziehung zu den eigenen Kindern der Fall sein. So kann es zum Beispiel sein, dass ein Vater, der von seinem eigenen Vater misshandelt und geschlagen wurde, selbst seine Kinder schlägt. Auf diese Weise wird die Traumatisierung direkt an die nächste Generation weitergegeben.

Dabei muss nicht genau das Trauma, das jemand erlebt hat, wiederholt werden. Oft wird eher das Verhältnis von Macht und Ohnmacht, das die Betroffenen erlebt haben, reinszeniert.

Das Trauma als Tabuthema

Traumatisierte Menschen vermeiden es häufig, über die traumatischen Erlebnisse zu sprechen. Das kann verschiedene Gründe haben: Nicht darüber zu sprechen und die belastenden Erlebnisse zu verdrängen, ist für die Betroffenen ein wichtiger Schutzmechanismus.

Häufig möchten sie auch andere Menschen, vor allem ihre Kinder, schützen und sie nicht mit den schrecklichen Erlebnissen belasten. Manche Menschen, etwa Opfer von sexuellem Missbrauch, schämen sich für die Geschehnisse und haben Schuldgefühle. Oft werden körperliche oder sexuelle Gewalt in der Familie oder in der Gesellschaft auch tabuisiert, so dass die Opfer große Angst haben, stigmatisiert zu werden, wenn sie von ihren Erlebnissen berichten.

Verschweigen gibt Trauma an Kinder weiter

Fachleute gehen jedoch davon aus, dass gerade das Verschweigen und die verdrängten Gefühle dazu beitragen, dass ein Trauma an die Kinder weitergegeben wird. Denn diese spüren und ahnen, dass es in der Familie ein Tabuthema gibt, über das nicht gesprochen wird und dass dies etwas Schlimmes gewesen sein muss. Oft spüren sie in der Familie eine bedrückende Stimmung des Schweigens, die stark verunsichernd sein kann.

Möglicherweise machen die Eltern Andeutungen, etwa „die Mutter hat schreckliche Dinge erlebt“ oder die Kinder bekommen von Zeit zu Zeit Bruchstücke über die traumatischen Erlebnisse ihrer Eltern mit. Untersuchungen mit Familien von Holocaust-Überlebenden haben gezeigt, dass das Verschweigen des Traumas bei den Kindern zu Angst und Angstfantasien, Wut und Schuldgefühlen führen kann und die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie eine psychische Störung entwickeln.

Ein weiterer Aspekt ist, dass Frauen, die Opfer von sexuellem Missbrauch sind, sich häufig schämen, schuldig fühlen und wenig Selbstwertgefühl haben. Dies können sie wiederum an ihre Kinder weitergeben.

Traumatisches Erleben der Eltern und häufiges Sprechen über das Trauma

Auf der anderen Seite kann ein Trauma auch weitergegeben werden, wenn in der Familie häufig über die traumatischen Ereignisse gesprochen wird.

Außerdem kann es sein, dass die Kinder die psychischen Folgen des Traumas bei ihren Eltern direkt und intensiv mitbekommen, etwa, wenn ein Elternteil Flashbacks erlebt und sich dann so verhält, also ob er oder sie wieder in der traumatischen Situation wäre. So kann es sein, dass der Betroffene wegläuft, sich versteckt oder in Panik schreit.

Die Kinder erleben die traumatischen Erfahrungen dabei quasi nach und machen sich bewusst oder unbewusst ein Bild davon, was die Mutter oder der Vater erlebt hat. Gleichzeitig bekommen sie das Leiden ihres Elternteils direkt mit und erleben die gleichen Gefühle, etwa starke Angst, Panik oder Entsetzen. Dadurch entwickeln die Kinder mit der Zeit häufig selbst eine Posttraumatische Belastungsstörung.

Emotionale Kälte und Gewalterfahrungen

Sehr belastend ist es für Kinder, wenn traumatisierte Eltern sich kalt und nicht liebevoll verhalten oder wenn es zu verbaler, körperlicher oder sexueller Gewalt kommt. Typische Symptome eines Traumas sind auch Aggression und Wutausbrüche. So kann es sein, dass ein traumatisierter Vater oder eine Mutter zu Gewalt neigt und den Partner und / oder die Kinder immer wieder anschreit, schlägt oder misshandelt. Untersuchungen haben gezeigt, dass Mütter, die in ihrer Kindheit ein Trauma erlebt haben, den Umgang mit ihrem Kind als belastender empfinden, sich impulsiver verhalten und schneller gereizt reagieren als nicht traumatisierte Mütter. Weiterhin neigen Mütter, die als Kinder Opfer von Missbrauch oder Vernachlässigung wurden, laut Studien dazu, ihre Kinder selbst zu misshandeln und zu vernachlässigen.
Emotionale Vernachlässigung oder Gewalterfahrungen sind für Kinder psychisch sehr belastend. Sie können dazu führen, dass die Kinder Ängste und starken Stress erleben, ein geringes Selbstwertgefühl haben und ein höheres Risiko haben, eine psychische Erkrankung oder ein Trauma zu entwickeln.

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