Transgenerationale Traumata (Seite 2/8)

Wie wurde gezeigt, dass ein Trauma „vererbt“ werden kann?

Mitte der 1960er Jahre suchten viele Kinder von Holocaust-Überlebenden therapeutische Hilfe, weil sie Symptome erlebten, die eher typisch für die Generation vor ihnen waren, die selbst den Holocaust miterlebt hatte. Daraus ergaben sich viele Forschungsarbeiten, die sich mit dem Thema „Kriegskinder“ und einer möglichen Weitergabe von Traumata an die nächste Generation beschäftigten – etwa vom israelischen Psychologen Natan Kellermann.

In späteren Untersuchungen wurde deutlich, dass auch die Enkel von Menschen, die Traumata wie den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, ähnliche Trauma-Symptome wie ihre Großeltern entwickeln können. Man sprach auch von „Kriegsenkeln“. Weitere Forschungsarbeiten legen nahe, dass ein Trauma zum Teil noch an die vierte Generation und weitere Generationen weitergegeben werden kann.

Inzwischen gibt es zahlreiche Untersuchungen mit den Kindern oder Enkeln von Menschen, die kollektive Traumata wie den Holocaust, Kriege, Terror, Folter oder Flucht erlebt haben. Zur Weitergabe individueller Traumata, etwa bei schwerer körperlicher oder sexueller Gewalt, gibt es dagegen weniger Studien. Fachleute gehen jedoch davon aus, dass die traumatischen Erfahrungen auch hier an nachfolgende Generationen weitergegeben werden können.

Nachkommen leiden unter erhöhter Stressanfälligkeit

Dass ein Trauma und die psychischen Folgen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden können, gilt inzwischen als gesicherter klinischer Befund. Gut nachgewiesen ist, dass die Nachkommen eine erhöhte Stressanfälligkeit und ein erhöhtes Risiko für psychische Belastungen und Erkrankungen und für eine Posttraumatische Belastungsstörung haben.

In Studien mit Holocaust-Überlebenden konnte nicht eindeutig nachgewiesen werden, dass ihre Nachkommen stärker von psychischen Erkrankungen betroffen sind als andere Menschen.

Allerdings zeigten die Untersuchungen, dass 15 Prozent der Nachkommen ein so genanntes „Second-Generation-Syndrom“ hatten – das heißt, sie neigten zu einer Vielzahl psychischer Beschwerden. Dazu gehörten Ängste und Zwänge, Aggressionen, ständige Anspannung, starke Schreckhaftigkeit, Verunsicherung, ein Gefühl der Entfremdung von sich selbst und ein geringes Selbstwertgefühl.

Wussten die Nachkommen von den traumatischen Erlebnissen ihrer Vorfahren, neigten manche dazu, sich stark mit diesen Erlebnissen und dem zugehörigen gesellschaftlichen Ereignis – etwa dem Zweiten Weltkrieg – zu beschäftigen. Dadurch entwickelten sie zum Teil Ängste oder Schuld- und Schamgefühle, die sich auf die Erlebnisse ihrer Eltern bezogen.

Welche Faktoren können zur Weitergabe eines Traumas beitragen?

Wenn ein Trauma an die Nachkommen weitergegeben wird, ist oft auch von einem „vererbten“ Trauma die Rede. Allerdings spielen bei der Weitergabe eines Traumas vermutlich eine Reihe von Faktoren eine Rolle, zwischen denen es komplexe Wechselwirkungen gibt. Dazu gehören neben biologischen Ursachen auch psychologische und soziale Faktoren.

Ein wichtiger Aspekt bei der Weitergabe eines Traumas scheint zu sein, dass die traumatisierte Person ihre Erfahrungen nicht oder unvollständig verarbeitet hat und deshalb weiterhin psychisch belastet ist. Auch wenn die belastenden Erlebnisse verschwiegen oder tabuisiert werden, kann das dazu beitragen, dass das Trauma auf die nächste Generation übertragen wird. Das Verschweigen kann auch dazu führen, dass die betroffene Person keine angemessene Unterstützung erhält und das Trauma daher nicht verarbeiten kann.

Verschiedene theoretische Ansätze haben sich mit der Frage beschäftigt, wie ein Trauma an nachfolgende Generationen übertragen wird. Dazu gehören Ansätze aus der Epigenetik, psychoanalytische, bindungstheoretische und sozialisationstheoretische Ansätze sowie Modelle zur Familienkommunikation. Hier sind die wichtigsten Aspekte zusammenfassend dargestellt.

Individuelle Unterschiede und Schutzfaktoren

Allerdings muss ein Trauma nicht zwangsläufig an die Kinder oder Enkel weitergegeben werden. Hier gibt es große individuelle Unterschiede. Dabei spielen Persönlichkeitsmerkmale, eigene Bewältigungsstrategien und Merkmale des sozialen Umfelds eine Rolle.

Untersuchungen haben gezeigt, dass es Schutzfaktoren gibt, die vor der Entwicklung psychischer Störungen schützen. So sind einige Nachkommen von Menschen, die schwere Traumata erlebt haben, besonders verletzlich und anfällig für psychische Belastungen.

Auch psychische Widerstandsfähigkeit wird vererbt

Andere haben dagegen eine besondere psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber psychischen Belastungen – man bezeichnet dies auch als Resilienz. Es gibt Hinweise darauf, dass auch psychische Resilienz an die nächsten Generationen weitergegeben werden kann. Dabei könnten genetische und epigenetische Aspekte eine Rolle spielen.

Weiterhin wurde in Studien gezeigt, dass die Auseinandersetzung mit den traumatischen Erlebnissen der Eltern für manche Nachkommen auch positiv sein kann: Sie kann dazu führen, dass sie diese Erlebnisse mit der Zeit als wertvolle Erfahrung in der Familiengeschichte und als wichtigen, sinnstiftenden Bestandteil ihres eigenen Lebens sehen.

Ein wichtiger sozialer Schutzfaktor vor psychischen Störungen ist eine positive, stabile Bindung zu einer oder mehreren nahen Bezugspersonen. Diese kann den Betroffenen helfen, die traumatischen Belastungen zu verarbeiten und zu überwinden.