Suizid (Seite 2/9)
Medizinische Sicht auf Suizid und Suizidversuch
Ursachen von Suizidalität sowie versuchten und vollendeten Selbsttötungen

Vollendete Selbsttötungen und Selbsttötungsversuche werden aus medizinischer Sicht häufig als Symptom einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung (z.B. einer Depression, bipolaren Störung oder Schizophrenie) betrachtet.
Da allerdings empirische Studien bisher keinen sicheren ursächlichen Zusammenhang zwischen Depression und suizidalem Verhalten finden konnten, können die Symptome von depressiven Störungen in erster Linie als Indizien für Suizidalität herangezogen werden:
- Langzeituntersuchungen haben ergeben, dass etwa 15% aller stationär behandelten depressiven Patienten an Suizid versterben. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung sind es deutlich weniger, nämlich zwei Prozent.
- Ein Bestehen von ausgeprägten depressiven Verstimmungen konnte rückblickend bei 40-70% der an Suizid Verstorbenen nachgewiesen werden. Zum Zeitpunkt von Suizidideen und Suizidversuchen zeigen sich nahezu immer gleichzeitig depressive Symptome.
- Auf der anderen Seite berichtet ein Großteil der Depressiven niemals von Suizidideen oder gar Suizidversuchen, weder während noch außerhalb ihrer depressiven Episoden.
Aber auch starke Schmerzen oder andere schwere Leiden, Krankheiten oder Behinderungen, die der Betroffene nicht mehr ertragen will oder kann, können der Auslöser für einen Freitodversuch sein.
In der Suizidforschung herrscht Einigkeit darüber, dass eine rechtzeitige medikamentöse Behandlung und Psychotherapie dem Betroffenen zwar helfen kann, dies ihn aber nicht unbedingt von einer Selbsttötung abhält.
Suizidalität
Besteht eine Selbsttötungsgefährdung spricht die Fachwelt von Suizidalität. Die Gründe für die Entwicklung einer Suizidalität und sich eventuell anschließende Selbsttötungsversuche sind vielfältig. Eines aber haben sie alle gemein: Suizidgefährdete befinden sich in einer Situation, die sie an ihre persönlichen Grenzen bringt, sie können und möchten nicht mehr so weiterleben, wie bisher.
Selbstmordgedanken entstehen meist dann, wenn die Betroffenen einem (nach eigenem Empfinden) unerträglich hohen Leidensdruck ausgesetzt sind und sie keine Hoffnung mehr haben. Sie stellen sich die Frage, wofür es sich überhaupt noch zu leben lohnt – und finden keine Antwort darauf.
Fallbeispiel Anna, 45 aus Berlin mit Selbstmordgedanken
Schließlich sehen sie als einzigen Ausweg aus der für sie unerträglichen Situation nur noch die Flucht in den Tod.
Suizidalität unterstellt immer, dass Menschen mit Selbsttötungsabsichten gründlich über diesen Schritt reflektieren und verschiedene Möglichkeiten abwägen. Nichtsdestotrotz ist die Mehrzahl der eigentlichen Suizidhandlungen in erster Linie eine Impulshandlung, wenn der aktuelle seelische Schmerz unerträglich geworden ist.
Studien über Suizidversuche kamen zu dem Schluss, dass allein 4 % sorgfältig geplant, aber nur 7 % mehr oder weniger harmlos waren.
Häufig verstärkt der Konsum vor allem von Alkohol, Medikamenten und Drogen durch den damit einhergehenden Verlust an Selbstkontrolle diesen Impulscharakter. Daher wirken Suizidhandlungen häufig impulsiv und schlecht geplant, obwohl die Suizidarrangements lange und gewissenhaft geplant erscheinen.
Die Impulsivität von Suizidhandlungen speist sich in der Regel aus einer gewissen Ambivalenz des Suizidenten hinsichtlich seines Wunsches tatsächlich zu sterben: Denn in den meisten Fällen möchten die Menschen mit Selbstmordabsichten gar nicht sterben und versuchen trotzdem, sich das Leben zu nehmen. Ganz selten ist die Selbsttötungsabsicht hundertprozentig.
Für diese Sicht spricht folgendes Forschungsergebnis:
„Übereinstimmend wird berichtet, dass die Suizidabsicht bei 68–80 % der Patienten in weniger als zwei Tagen, bei 90–99 % in weniger als zehn Tagen in der Klinik korrigiert wurde.“
(Quelle: " Bronisch, Thomas: Der Suizid: Ursachen, Warnsignale, Prävention")
Anhaltende Suizidalität
Oftmals entwickeln sich die Selbstmordgedanken über einen längeren Zeitraum hinweg. Dann spricht man auch von einer anhaltenden Suizidalität. Diese wiederum ist gleichzeitig auch mit einem langen Leidensweg der Betroffenen verbunden.
Manchmal kann dann bereits ein in psychisch gesunder Verfassung als Kleinigkeit zu wertendes Vorkommnis das Fass sprichwörtlich zum Überlaufen bringen und der Auslöser für einen Suizid(versuch) sein.
Doch nicht immer müssen bei allen Betroffenen die Selbstmordgedanken konstant vorhanden sein, manchmal können sie auch zur Seite geschoben werden. Wenn es den Betroffenen wieder schlechter geht, sind sie erneut stärker präsent.
Manchmal sind es aber auch äußere Ereignisse, die die Betroffenen in eine schwierige Situation bringen: Das kann beispielsweise der Verlust eines nahestehenden Menschen sein, schwere Erkrankungen, chronische Schmerzen, aber auch Schulden und Arbeitslosigkeit, Partnerschaftskonflikte und Trennungen.
Akute Suizidalität
Manchmal ist der Suizid auch eine Kurzschlusshandlung, die meist ohne langes Nachdenken über mögliche Konsequenzen entsteht – und das häufig auch ohne vorherige Warnzeichen. Er kommt überraschend für Angehörige sowie Freunde und lässt sie ratlos zurück.
Dieses Phänomen eines sogenannten ad-hoc-Suizids ist vermehrt bei Teenagern zu beobachten. Das Jugendalter ist ohnehin für manche Teenager eine schwere Zeit: Ein geringes Selbstwertgefühl, eine allgemeine Verunsicherung, Streit in der Familie, Liebeskummer, manchmal kommt auch noch Mobbing in der Schule hinzu. Erfahrungsgemäß können gerade viele Jugendliche mit solchen Problemen noch schlechter umgehen als Erwachsene und reagieren impulsiver. In extremen Fällen kann es zu einer Kurzschlusshandlung kommen.
Warnsignale und Hinweise für Außenstehende können somit völlig fehlen. Oftmals sind Jugendliche ohnehin in sich gekehrter und reden nicht viel mit ihren Eltern und Verwandten, ziehen sich zurück, grenzen sich ab, was oftmals als normale Begleiterscheinung ihrer Lebensphase gesehen wird und nicht als einen möglichen Hinweis auf einen drohenden Suizid.
Gerade bei Teenagern kann es zudem zu einem Imitationseffekt kommen. Beobachten lässt sich dies beispielsweise bei Fernsehsendungen und Filmen mit einem derartigen Inhalt oder auch Nachahmungstaten bei Suiziden in der Musikszene, wie sie beispielsweise nach dem Suizid von Kurt Cobain festgestellt wurden.
Wer ist besonders gefährdet?
Suizidalität kommt in allen sozialen Schichten vor, kann junge und ältere Menschen betreffen. Bei manchen Personen ist die Gefahr jedoch erhöht:
- Bei Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Schizophrenie
- Bei Suchterkrankten
- Bei Menschen, die sich in einer Ausnahmesituation beziehungsweise Lebenskrise befinden (zum Beispiel durch äußere Umstände wie der Tod einer nahestehenden Person, Verschuldung oder Arbeitslosigkeit)
- Bei Menschen mit unheilbaren Krankheiten und starken Schmerzen
- Bei älteren Menschen, die unter Krankheiten leiden, einsam sind, keine Lebensfreude beziehungsweise keinen Lebensmut mehr haben
- Bei Jugendlichen, die in einer persönlichen Krise stehen oder familiäre Probleme haben
Weitere Arten des Suizids
Zudem gibt es noch den sogenannten erweiterten Suizid beziehungsweise Suizidversuch. Bei einem Doppel-Suizid bringen sich zwei Menschen zusammen um; bei einem Massen-Suizid gleich eine ganze Gruppe von Menschen. Um einen Mitnahme-Suizid handelt es sich, wenn beispielsweise ein Elternteil sich selbst und sein Kind umbringt. Der selbstredende Begriff des Geisterfahrer-Suizids stammt aus dem US-amerikanischen Raum. Bei einem Terroristen-Suizid ist die Selbsttötung oft nur Mittel zum Zweck, hauptsächlich geht es dabei um die Tötung anderer.