Persönlichkeitsmerkmale als störende Belastung (Seite 6/16)

Schizoide Persönlichkeits­störung

Tiefgreifende Kontaktstörung

Menschen mit einer schizoiden Persönlichkeitsstörung haben eine tiefgreifende Kontaktstörung zu anderen Menschen. Sie haben nur eine geringe Fähigkeit, Gefühle – insbesondere Freude – zu zeigen, und wirken auf andere dadurch oft hölzern und starr. Sie leben oft zurückgezogen und haben kaum soziale Kontakte. Häufig ziehen sich in Fantasien zurück – möglicherweise als Ausgleich für die fehlenden Kontakte und die ständige soziale Isolation.

Im Berufsleben wählen sie oft Aufgaben, in denen sie nicht mit anderen zusammenarbeiten müssen – dort können sie zum Teil gute Leistungen erzielen. Engere soziale Kontakte oder Veränderungen, die ihnen von außen auferlegt werden, empfinden sie als bedrohlich und reagieren dann oft mit abruptem Rückzug.

Einige der Betroffenen entwickeln mit der Zeit depressive Verstimmungen oder Ängste. Manchen wird allmählich bewusst, dass sie gesellschaftliche Außenseiter sind und keine Freunde haben. Andere reagieren mit Angst, wenn sie gezwungen sind, im Privatleben oder im Beruf intensivere Kontakte aufzunehmen. Unter günstigen Bedingungen kann sich die Störung manchmal aber auch abmildern – zum Beispiel, wenn jemand Vertrauen zu einem (oder mehreren) anderen Menschen fasst.

Daniel ist 55 Jahre alt und arbeitet als Chemiker. Er berichtet, dass er sich seit acht Jahren einmal in der Woche mit einer Frau trifft, um mit ihr einen Film anzuschauen und Geschlechtsverkehr zu haben. Sonst hat er keinerlei persönliche Kontakte. Er gibt an, dass er nicht versteht, warum andere Leute Zeit miteinander verbringen. Daniel sieht sich selbst als unauffällig an. In den letzten 40 Jahren war er allerdings mehrmals wegen Ängsten in Therapie.

Über seine Kindheit berichtet Daniel, dass seine Mutter schwer krank war und viel Zeit in Kliniken verbrachte, als er zwei bis vier Jahre alt war. Er lebte in dieser Zeit bei der Großmutter. Dann starb seine Mutter und er wohnte bei seinem Vater und dessen neuer Frau. Vorher hatte er den Vater kaum gekannt, und auch in der folgenden Zeit war dieser nur selten zuhause. In dieser Zeit entwickelte Daniel vermutlich die Einstellung: „Es ist keine gute Idee, Bindungen zu anderen Menschen einzugehen, weil sie mich wahrscheinlich wieder verlassen werden.“ Schon in seiner Kindheit und Jugend vermied Daniel Kontakte und Beziehungen zu anderen. Er berichtet außerdem, dass es kaum etwas gibt, was ihm Freude macht.

Während seines Chemiestudiums erlebte Daniel häufig Ängste und auch Panikattacken. Dies war auch in seinem Beruf der Fall, wenn er Aufgaben übernehmen musste, bei denen er mit anderen zusammenarbeiten musste.

In einer Therapie wird Daniel dazu angeregt, mehr Zeit mit anderen Menschen zu verbringen. Dies kann er auch verwirklichen – gibt aber an, dass er nicht wirklich versteht, warum er es tun soll.

Übergänge zur Normalität – schizoider Persönlichkeitsstil (nach Kuhl & Kazén)

Menschen mit einem schizoiden Persönlichkeitsstil – der einer schizoiden Persönlichkeitsstörung ähnelt, aber weniger stark ausgeprägt ist – sind einzelgängerisch und in sozialen Kontakten zurückhaltend. Sie haben eine Vorliebe für Tätigkeiten, die sie alleine ausführen können. Weiterhin sind sie gegenüber Lob und Kritik relativ gleichgültig und neigen zu einem sachlichen, nüchternen Verhalten. Viele leben als Single und arbeiten in Berufen, die sich gut allein ausüben lassen, zum Beispiel Arbeitstätigkeiten am Computer oder in Schichtarbeit. In diesen Berufen sind sie häufig erfolgreich und bekommen auch dadurch Anerkennung, dass sie – wegen ihrer fehlenden sozialen Bindungen – zeitlich und räumlich flexibel einsetzbar sind.

Welche Symptome sind typisch für eine schizoide Persönlichkeitsstörung?

Merkmale nach DSM: Es besteht ein tiefgreifendes Verhaltensmuster, das durch Distanziertheit in sozialen Beziehungen und eine eingeschränkte Bandbreite im Ausdruck von Gefühlen gekennzeichnet ist. Die Störung beginnt meist in der späten Jugend oder im frühen Erwachsenenalter, kann sich aber auch schon früher andeuten. Sie macht sich in verschiedensten Situationen bemerkbar.

Die Symptomatik ist nicht auf eine organische Ursache zurückzuführen und tritt auch nicht ausschließlich im Verlauf einer anderen psychischen Störung auf – insbesondere einer Schizophrenie, einer affektiven Störung mit wahnhaften Symptomen oder einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung (einer ausgeprägten Störung der Kommunikation und der sozialen Beziehungen, die seit der frühen Kindheit besteht). Nach DSM müssen mindestens vier der folgenden Kriterien erfüllt sein:

  1. Die Betroffenen haben weder den Wunsch nach engen Beziehungen noch Freude daran. Dies schließt auch die Tatsache ein, Teil einer Familie zu sein.
  2. Sie bevorzugen, wann immer dies möglich ist, einzelgängerische Unternehmungen.
  3. Sie haben, wenn überhaupt, wenig Interesse an sexuellen Erfahrungen mit einem anderen Menschen.
  4. Wenn überhaupt, bereiten ihnen nur wenige Tätigkeiten Freude.
  5. Sie haben keine engen Freunde oder Vertraute außer Verwandten ersten Grades.
  6. Sie erscheinen gleichgültig gegenüber Lob und Kritik.
  7. Sie wirken emotional kalt und distanziert oder zeigen nur eingeschränkt Gefühle.

Diese Merkmale sind sehr ähnlich wie die Kriterien der ICD-10.

Wie häufig kommt eine schizoide Persönlichkeitsstörung vor?

Es wird geschätzt, dass weniger als ein Prozent der Bevölkerung von einer schizoiden Persönlichkeitsstörung betroffen ist. Sie kommt damit im Vergleich zu anderen Persönlichkeitsstörungen relativ selten vor. Dabei sind vermutlich etwas mehr Männer betroffen als Frauen.

Was sind mögliche Ursachen der schizoiden Persönlichkeitsstörung?

Wie bei den Persönlichkeitsstörungen wird als Ursache ein Zusammenspiel von biologischen, psychischen und umweltbezogenen Faktoren angenommen. +

Man geht davon aus, dass die Betroffenen genetisch vorbelastet sind – denn die Störung tritt in Familien, in denen ein Mitglied an Schizophrenie erkrankt ist, häufiger auf. Dabei wird vermutet, dass genetisch bedingt eine besonders hohe Sensibilität und Irritierbarkeit besteht.

Wenn zusätzlich schwierige Verhältnisse in der Kindheit wie emotionale Vernachlässigung, Misshandlungen oder psychische Störungen der Eltern hinzukommen, kann dies die Entstehung der Störung begünstigen.

Aus psychoanalytischer Sicht wird angenommen, dass sich die Eltern ablehnend verhalten haben oder ihre Kinder misshandelt haben. Außerdem wird vermutet, dass die Betroffenen in ihrer Kindheit wiederholt versucht haben, Kontakt zu anderen aufzunehmen und dabei immer wieder erlebt haben, dass diese gar nicht oder auf eine negative Weise reagiert haben. Dies könnte dazu geführt haben, dass sie sich extrem zurückgezogen haben und nun jede Form von Kontakt vermeiden.

Eine weitere Annahme ist, dass Menschen mit schizoider Persönlichkeitsstörung zwar Gefühle wie Wut oder Angst empfinden, sie aber nicht angemessen ausdrücken können – und dadurch Kontakte und engere Beziehungen ganz vermeiden.

Aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer Sicht wird vermutet, dass die Betroffenen Schwierigkeiten haben, feine Hinweise auf Gefühle bei anderen wahrzunehmen und deshalb auf gefühlsauslösende Reize kaum reagieren. Außerdem könnte es sein, dass sie durch die ständige soziale Isolation Defizite bei den sozialen Fähigkeiten haben und sich deshalb schwer tun, befriedigende Beziehungen aufzubauen.

Behandlung der schizoiden Persönlichkeits­störung

Psychotherapeutische Ansätze

Die schizoide Persönlichkeitsstörung kann mit psychoanalytischen bzw. tiefenpsychologischen oder kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapieansätzen behandelt werden. Eine Psychotherapie kann den Patienten helfen, ihr Verhalten in kleinen Schritten zu verändern, so dass sie überhaupt wieder Kontakte zu anderen aufnehmen und sie allmählich als befriedigend erleben können. In der Therapie werden oft eher einfache Behandlungsziele gewählt – der Schwerpunkt liegt häufig auf der Veränderung aktueller Probleme und Stressfaktoren.

Mögliche Probleme in der Psychotherapie und Lösungsansätze

In der Regel kommen die Betroffenen sehr selten aus eigenem Antrieb in eine Therapie. Viele fühlen sich zwar unzufrieden und unglücklich, sehen sich aber nicht als psychisch krank an. Gründe, eine Therapie zu beginnen, sind häufig Depressionen, Ängste oder ein Missbrauch von Alkohol oder Drogen.

In der Therapie wirken die Patienten oft distanziert, scheinen allem gegenüber gleichgültig zu sein und machen oft nur geringe Fortschritte. Außerdem fällt es ihnen schwer, eine engere, vertrauensvolle Beziehung zum Therapeuten einzugehen. Deshalb wird in der Therapie besonders darauf hingearbeitet, allmählich eine vertrauensvolle, tragfähige Beziehung herzustellen. Der Therapeut verhält sich stärker als bei anderen Patienten aktiv und unterstützend – zum Beispiel, indem er konkrete Vorschläge für das weitere Vorgehen macht. Gleichzeitig sollte er den Patienten nicht überfordern, indem er Gefühle stark in den Vordergrund stellt. Stattdessen kann der Therapeut versuchen, auf das Bedürfnis der Patienten nach mehr Distanz einzugehen, indem er eher schriftliche Hausaufgaben (zum Beispiel Tagesprotokolle) vereinbart oder einen Kontakt per E-Mail ermöglicht.

Psychoanalytische und tiefenpsychologisch-fundierte Therapie

Die psychoanalytische Therapie zielt darauf ab, dass die Betroffenen überhaupt wieder zwischenmenschliche Kontakte aufnehmen. Sie sollen lernen, diese mit der Zeit so zu gestalten, dass sie stabil und befriedigend sein können. Auf der anderen Seite wird in der Therapie aber auch auf die Vorliebe, allein zu sein oder sich aus zwischenmenschlichen Beziehungen zurückzuziehen, Rücksicht genommen. So wird mit den Patienten zum Beispiel nach Möglichkeiten gesucht, wie sie das Alleinsein zufriedenstellend gestalten können.

Kognitive Verhaltenstherapie

Hier wird daran gearbeitet, dass die Patienten allmählich wieder ein Bedürfnis nach Kontakt entwickeln und sich gegenüber emotionalen und zwischenmenschlichen Erfahrungen öffnen. Anschließend sollen sie Schritt für Schritt wieder Kontakte zu anderen aufzunehmen und dabei auch Gefühle zuzulassen. Weiterhin können sie üben, ihre Gefühle bewusster wahrzunehmen und öfters positive Gefühle zu erleben – zum Beispiel, indem sie angenehme Aktivitäten durchführen.

Dadurch, dass sich die Betroffenen im Kontakten oft schroff und abweisend verhalten oder sich schnell zurückziehen, erleben sie oft negative Reaktionen wie Kritik oder einen Abbruch der Freundschaft. Auch dieser Punkt kann in der Therapie bearbeitet werden: Die Patienten lernen, welche Reaktionen ihr Verhalten bei anderen auslöst – und können anschließend in einem Training sozialer Fertigkeiten üben, ihr Verhalten so zu ändern, dass es für sie selbst und für andere befriedigender ist.

Gruppentherapie

Menschen mit einer schizoiden Persönlichkeitsstörung verhalten sich zwar in einer Gruppe meist sehr ruhig und zurückhaltend. Wenn sie aber merken, dass die Gruppe sie akzeptiert und sie sich dort sicher fühlen, kann auch eine Gruppentherapie hilfreich sein. Sie kann dazu beitragen, dass sich die Betroffenen nach und nach mehr beteiligen und Ängste vor Nähe überwinden. In der Gruppe können sie die Erfahrung machen, dass soziale Beziehungen auch positiv und befriedigend sein können. Außerdem können sie hier lernen, neue emotionale Erfahrungen zuzulassen, Feedback von anderen anzunehmen und ihre sozialen Kompetenzen zu verbessern.

Therapie mit Psychopharmaka

Teilweise werden bei einer schizoiden Persönlichkeitsstörung begleitend zur Psychotherapie auch Psychopharmaka eingesetzt – vor allem, wenn gleichzeitig andere psychische Störungen wie schwere Depressionen, Ängste oder wahnhafte Symptome auftreten. Ein Nutzen von Psychopharmaka bei einer schizoiden Persönlichkeitsstörung wurde aber bisher nicht eindeutig nachgewiesen.

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