Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen (Seite 5/8)
Was zeichnet die Diagnose bei Kindern und Jugendlichen aus?
Abgrenzung von psychischen Erkrankungen und "normalen" Entwicklungsproblemen wichtig
Bei der psychotherapeutischen oder psychiatrischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen geht es darum, die genaue psychische Erkrankung zu erkennen, die Ursachen und Bedingungen, die dabei eine Rolle spielen, zu erfassen und daraus geeignete Maßnahmen für die Behandlung abzuleiten.
Ein wichtiges Ziel der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist es, psychische Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und so möglichst früh eine erfolgversprechende Behandlung einzuleiten. Zugleich müssen behandlungsbedürftige Probleme von nur vorübergehenden, entwicklungsbedingten Schwierigkeiten abgegrenzt werden, die keine spezielle Behandlung erfordern.
Um günstige Voraussetzungen für die Behandlung zu schaffen, wird sich der Therapeut im Verlauf der gesamten Behandlung beginnend mit der Diagnose gegenüber allen Beteiligten einfühlsam, verständnisvoll und ermutigend verhalten.
Wie läuft die Diagnose von psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen ab?
Zu Beginn wird eine umfassende Diagnose durchgeführt, um die Art der psychischen Auffälligkeiten und die Faktoren, die dazu geführt haben, genau beurteilen zu können. Dabei werden sowohl langfristige Faktoren als auch momentane Belastungen berücksichtigt.
Auch wenn bei der Diagnose viele Informationen erfragt werden, geht es nie darum, wer „Schuld hat“. Vielmehr möchte man die Störung möglichst genau verstehen, um so den Schlüssel für eine erfolgreiche Behandlung zu erhalten.
Im Zentrum steht dabei ein ausführliches Gespräch mit dem Kind bzw. Jugendlichen und seinen Eltern. Um ein möglichst umfassendes Bild der Störung zu erhalten, können – mit Einverständnis der Eltern bzw. des Jugendlichen – auch Geschwister, Lehrer, Mitschüler oder Ärzte in den diagnostischen Prozess einbezogen werden. Zusätzlich kann das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen in konkreten Situationen beobachtet werden, um die Symptomatik besser einschätzen zu können. Je nach Art der Erkrankung werden weitere medizinische Untersuchungen und psychologische Testverfahren durchgeführt.
Diagnostisches Gespräch
Im Gespräch werden zunächst die Symptome selbst beurteilt:
- Welche Symptome treten auf?
- Wie schwer sind sie ausgeprägt und wie lange bestehen sie schon?
- Treten sie nur in bestimmten oder in fast allen Situationen auf?
Dabei schätzt der Behandler auch ein, ob die Auffälligkeiten in diesem Alter normal sein können oder für das Alter unangemessen sind. So können Trennungsängste oder gelegentliches Einnässen im Vorschulalter normal sein und mit der Zeit von alleine verschwinden, während sie bei Kindern im Schulalter eher ungewöhnlich sind und zu deutlichen Problemen führen können.
Gleichzeitig wird beurteilt, wie stark das Kind oder der Jugendliche unter den Symptomen leidet. Wird es dadurch in seinen sozialen Kontakten beeinträchtigt oder in seiner normalen Entwicklung behindert? Von Bedeutung ist auch, wie stark die Eltern, andere Kinder oder Erzieher unter den Symptomen des Kindes leiden oder sich dadurch beeinträchtigt fühlen. Dies kann vor allem bei hyperaktivem Verhalten oder bei ausgeprägtem aggressivem Verhalten und Trotz der Fall sein.
Im diagnostischen Gespräch werden auch die individuellen Stärken sowie die Ressourcen des Kindes und des sozialen Umfelds erfasst – zum Beispiel gute soziale Fähigkeiten des Kindes, ein unterstützendes Verhalten der Eltern oder ein stabiles soziales Umfeld.
Weitere Untersuchungen: Verhaltensbeobachtung, medizinische Untersuchungen und psychologische Tests
Um die Informationen aus dem diagnostischen Gespräch zu ergänzen, können Verhaltensbeobachtungen, medizinische Untersuchungen und zusätzliche psychologische Testverfahren durchgeführt werden.
Die Verhaltensbeobachtung macht es möglich, genauere Informationen über das problematische Verhalten des Kindes oder Jugendlichen zu erhalten – zum Beispiel über die Häufigkeit, die Auslöser und die Folgen eines bestimmten Verhaltens. So kann die Mutter beauftragt werden, dass Essverhalten oder das Spielverhalten ihres Kindes über den Tag zu beobachten und in einem Protokoll festzuhalten. Auch das Kind oder der Jugendliche selbst kann sein Verhalten beobachten und mithilfe eines Protokolls zum Beispiel festhalten, wie oft und in welchen Situationen Ängste oder unruhiges Verhalten auftreten.
Bei der körperlichen Untersuchung wird erfasst, ob körperliche Behinderungen, körperliche Erkrankungen oder Verzögerungen der körperlichen Entwicklung vorliegen. Dies ist wichtig, wenn die Vermutung besteht, dass auch körperliche Faktoren die psychische Symptomatik beeinflussen könnten.
Die psychologische Diagnostik dient dazu, mithilfe standardisierter Tests zu überprüfen, ob die Entwicklung der Sprache, der geistigen (kognitiven) Fähigkeiten oder der Bewegungsfähigkeit dem Alter des Kindes entsprechen oder ob hier Auffälligkeiten bestehen. Außerdem können spezielle Fähigkeiten wie Lese- und Rechtschreib- oder Rechenfähigkeit untersucht werden. In manchen Fällen werden mit psychologischen Tests auch Aspekte der Persönlichkeit des Kindes oder die Beziehungen innerhalb der Familie untersucht.
Exkurs: Beurteilung der Erkrankung mit Klassifikationssystemen
Ähnlich wie bei Erwachsenen werden bei der Diagnostik oft auch Klassifikationssysteme wie die „internationale Klassifikation psychischer Störungen“ (ICD-10) oder das „diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen“ (DSM) eingesetzt, mit denen psychische Erkrankungen systematisch erfasst werden können.
Um die verschiedenen Faktoren, die bei der psychischen Erkrankung im Kindes- und Jugendalter eine Rolle spielen, möglichst genau zu erfassen, wird hier oft das so genannte „Multiaxiale Klassifikationsschema“ (MAS; deutsche Version: Remschmidt et al., 2001) verwendet. Darin wird die psychische Störung auf insgesamt sechs Achsen abgebildet: Neben dem psychischen Störungsbild selbst (Achse 1) wird berücksichtigt, ob Entwicklungsstörungen (Achse 2) und körperliche Krankheiten (Achse 4) vorliegen. Außerdem werden das Intelligenzniveau (Achse 3), die aktuellen psychosozialen Umstände (Achse 5) und die psychosoziale Anpassung (Achse 6) beurteilt. Bei der psychosozialen Anpassung wird zum Beispiel erfasst, wie gut die sozialen Kontakte des Kindes oder Jugendlichen zu anderen Familienmitgliedern, Gleichaltrigen und anderen Erwachsenen sind, wie gut er oder sie in der Schule zurechtkommt und welche Interessen und Freizeitaktivitäten bestehen
Verlaufs- und Ergebnisdiagnostik
Im Verlauf der Therapie kann der Therapeut von Zeit zu Zeit überprüfen, ob sich das problematische Verhalten oder die psychischen Problembereiche verbessert haben. Auf diese Weise kann er dem Kind oder Jugendlichen und seinen Eltern eine Rückmeldung über die Veränderungen geben und, wenn notwendig, Veränderungen im Ablauf der Therapie einleiten.
Wichtig ist auch die Bewertung der Veränderungen zum Ende der Therapie: Hier wird überprüft, was sich im Vergleich zum Beginn verändert hat und ob die Ziele der Therapie erreicht wurden. Dabei werden auch das Kind bzw. der Jugendliche und seine Eltern gefragt, wie zufrieden sie mit dem Ergebnis der Therapie sind. Auf diese Weise kann beurteilt werden, ob eventuell weitere Maßnahmen (zum Beispiel Fortsetzung der Therapiegespräche in größeren Abständen) notwendig sind.