Schmerzen ohne Warn- und Schutzfunktion (Seite 4/8)

Chronifizierung von Schmerzstörungen

Auch bei der Entstehung und dem Verlauf chronischer Schmerzen geht man von einem Mehrebenen-Modell aus, das biologische, psychologische und soziale Prozesse umfasst. Dabei wird angenommen, dass als Auslöser der Schmerzen vor allem biologische Faktoren von Bedeutung sind: Vor allem Verletzungen oder Entzündungen, aber möglicherweise auch eine genetische Neigung zu Schmerzen.

Dagegen spielen bei der Chronifizierung der Schmerzen vermutlich vor allem psychische und soziale Faktoren eine Rolle. Allerdings gibt es oft auch Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Faktoren, die dann zu Teufelskreisen führen können. Zum Beispiel können die ständige Belastung durch die Schmerzen und der damit verbundenen Stress zu einer erhöhten Muskelanspannung führen – und diese erhöht wiederum die Schmerzempfindlichkeit.

Welche biologische Prozesse tragen zur Chronifizierung von Schmerzen bei?

Andauernde Schmerzen führen zu sinkender Schmerzschwelle und Schmerzgedächtnis

Wenn Schmerzen über längere Zeit bestehen, führt das oft zu komplexen Veränderungen in den Gebieten des Gehirns und den Nervenzellen, die für das Schmerzempfinden zuständig sind. Dabei „brennen“ sich die Schmerzen quasi ins Gehirn „ein“. Es entsteht ein so genanntes Schmerzgedächtnis, das bewirkt, dass jemand auch ohne äußere Auslöser Schmerzen empfindet. Auch die Nervenzellen können von alleine Schmerzsignale an das Gehirn senden. Außerdem wird die Schmerzschwelle mit der Zeit geringer: Der Betroffene kann dann selbst leichte Schmerzreize als stark empfinden und auch Reize wie etwa Berührungen als schmerzhaft empfinden.

Insgesamt bedeutet das, dass chronische Schmerzen sicher nicht „eingebildet“ sind, sondern durch komplexe körperliche Prozesse aufrechterhalten werden.

Welche Rolle spielen psychische Belastungen bei der Entstehung chronischer Schmerzen?

Wenn jemand eine ständige körperliche und psychische Anspannung, Ängste oder depressive Verstimmungen erlebt, kann das die Entwicklung chronischer Schmerzen begünstigen. Aber auch belastende, stressreiche oder schmerzhafte Erfahrungen in der früheren Lebensgeschichte und Konflikte im sozialen Umfeld können zur Entstehung chronischer Schmerzen beitragen.

Wie beeinflussen Lernprozesse die Entwicklung einer chronischen Schmerzstörung?

Lernen am Modell, klassische und operante Konditionierung

Lernprozesse spielen bei der Chronifizierung der Schmerzen eine wichtige Rolle. So wird häufig das Verhalten anderer Familienmitglieder unbewusst übernommen („Lernen am Modell“) – zum Beispiel, wenn jemand in der Familie schon bei kleineren Beschwerden einen Arzt aufsucht oder dazu neigt, sich bei Schmerzen sehr zu schonen. Solches Verhalten wirkt sich ungünstig auf die Schmerzen aus und kann zu einer chronischen Entwicklung beitragen.

Auch die Lernprozesse der klassischen und operanten Konditionierung tragen dazu bei, dass die Schmerzen bestehen bleiben oder sich sogar verstärken.

Bei der klassischen Konditionierung werden vorher neutrale Reize (zum Beispiel eine bestimmte Bewegung oder Berührung) mit der Schmerzempfindung in Verbindung gebracht. Dadurch tritt nun bei dieser Bewegung oder Berührung jedes Mal eine Schmerzreaktion auf.

Beim operanten Konditionieren lernt der Betroffene, dass er durch ein bestimmtes Verhalten (zum Beispiel das Vermeiden bestimmter Bewegungen) heftige Schmerzen vermeiden kann. Das führt dazu, dass er die Bewegungen nun ständig vermeidet – oft auch noch, wenn sie gar nicht mehr zu akuten Schmerzen führen. Langfristig hat dieses Vermeidungsverhalten ungünstige Folgen: Es führt dazu, dass die Muskulatur abgebaut wird, was wiederum die Schmerzempfindlichkeit erhöht. Außerdem ziehen sich die Betroffenen so oft auch aus vielen Aktivitäten und sozialen Kontakten zurück und können viele befriedigende Dinge nicht mehr erleben (so genannter Verlust positiver Verstärker). Viele Patienten entwickeln auf diese Weise mit der Zeit eine depressive Symptomatik.

Außerdem kann auch die Assoziation der Schmerzen mit positiven Aspekten (so genannte positive Verstärkung) dazu beitragen, dass sie über längere Zeit anhalten. Das ist der Fall, wenn jemand durch die Schmerzen bestimmte Vorteile hat, zum Beispiel eine ungeliebte Arbeitstätigkeit vermeiden kann oder von Angehörigen besonders viel Zuwendung bekommt. Hier spricht man auch von einem „Krankheitsgewinn“.

Welche kognitive Faktoren wirken sich bei der Chronifizierung von Schmerzen aus?

Auch eine ungünstige Interpretation der Schmerzen kann zu einer chronischen Entwicklung beitragen – wenn jemand zum Beispiel dazu neigt, sich schlimme, katastrophale Folgen auszumalen oder wenn er auf die Schmerzen verzweifelt, hoffnungslos oder aggressiv reagiert.

Solche negativen Gefühle führen oft zu einem ungünstigen Verhalten (zum Beispiel Rückzug) und begünstigen Depressivität, was in einer Art Teufelskreis die Schmerzen aufrechterhält.

Auf der anderen Seite kann auch ein ständiges Ignorieren oder ständiges Verschweigen der Schmerzen dazu beitragen, dass jemand sich zu viel zumutet und die Schmerzen so chronisch bestehen bleiben.

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