Wenn Angst das Leben bestimmt (Seite 10/12)

Der Angst den Boden nehmen

Realitätsnah durch Verhaltenstherapie oder Psychoanalyse

Angststörungen können mit einer Psychotherapie oder mit Medikamenten meist gut behandelt werden. Manchmal werden auch beide Ansätze miteinander kombiniert. In jedem Fall sollten Sie sich darauf einstellen, dass die Behandlung Zeit benötigt.

Welche Art der Therapie stattfindet, hängt von der Art und Schwere der Angststörung und von ihrem bisherigen Verlauf ab. Wichtig sind aber auch die persönlichen Vorstellungen und Wünschen der Klient*innen. Sie können zum Beispiel entscheiden, ob sie eine Psychotherapie machen oder Medikamente nehmen möchten. Eine Ausnahme ist die spezifische Phobie, bei der eine kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition empfohlen wird.

Bestehen weitere psychische Erkrankungen, etwa eine Depression oder eine Suchterkrankung, werden auch diese in der Therapie behandelt.

Wichtige Ziele der Therapie sind:

  • Die Angstsymptome und das Vermeidungsverhalten sollen so weit zurückgehen, dass die Lebensqualität deutlich zunimmt, Einschränkungen im Alltag und in den sozialen Beziehungen zurückgehen und die Betroffenen wieder voll arbeitsfähig sind.
  • Die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls, also dass die Angstsymptome nach einiger Zeit erneut auftreten, soll möglichst gering sein.
  • Um die für Sie passendste Behandlung zu finden, sollten Sie sich im Gespräch mit Ihrer Therapeutin oder Ihrem Therapeuten ausführlich über die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten informieren. Fragen können zum Beispiel sein:
  • Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?
  • Was sind Vor- und Nachteile der verschiedenen Ansätze? Was sind mögliche Nebenwirkungen?
  • Wie lange wird die Behandlung voraussichtlich dauern?
  • Was kann ich selbst tun, um die Angst möglichst bald zu überwinden?

Psychotherapie

In einer Psychotherapie arbeiten Sie gemeinsam mit Ihrer Therapeutin oder Ihrem Therapeuten in Gesprächen und mit bestimmten Übungen und Techniken daran, Ihre Angst zu überwinden. Das bedeutet, dass Sie in einer Psychotherapie aktiv an der Bewältigung der Ängste mitarbeiten sollten.

Zu Beginn wird die Therapeutin oder der Therapeut sich darum bemühen, eine gute, vertrauensvolle Beziehung zu Ihnen aufbauen. Sie oder er wird Ihnen vermitteln, dass Sie gute Chancen haben, die Ängste zu überwinden und Sie zugleich ermutigen, aktiv daran mitzuarbeiten. Die Therapeutin oder der Therapeut wird Sie auch darüber informieren, wie die Therapie ablaufen wird, zum Beispiel, wie lange sie vermutlich dauern wird, wie oft die Termine stattfinden, ob Sie zusätzlich Medikamente einnehmen sollten usw.

Weiterhin erhalten Sie Informationen darüber, wie Ängste entstehen, welche Symptome dabei auftreten können, welche Faktoren die Angst aufrechterhalten können und wie die Angst behandelt werden kann. Das nennt man auch Psychoedukation.

Im nächsten Schritt wird die Therapeutin oder der Therapeut Sie ermutigen, sich mit den Auslösern der Angst auseinanderzusetzen und die angstbesetzten Situationen aktiv anzugehen anstatt sie zu vermeiden. Weiterhin wird in der Therapie auf Probleme und Belastungen in Ihrem Leben eingegangen, die möglicherweise mit der Angst zusammenhängen. Dabei wird die Therapeutin oder der Therapeut gemeinsam mit Ihnen nach Möglichkeiten suchen, wie die Belastungen verringert werden können.

In Deutschland werden nur die so genannten „Richtlinienverfahren“ von den Gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. Das sind die Verhaltenstherapie, die analytische und die tiefenpsychologisch-fundierte Psychotherapie sowie die Systemische Therapie. Ihre Wirksamkeit konnte in einer Vielzahl von Studien nachgewiesen werden. Darüber hinaus gibt es weitere Therapieverfahren, deren Wirksamkeit aber nicht oder bisher nicht ausreichend belegt ist.

Udo B. hat große Angst vor dem U-Bahn-Fahren. Er glaubt, dass es ziemlich wahrscheinlich ist, dass dort ein Unfall oder ein Anschlag passieren kann. Häufig stellt er sich lebhaft vor, dass die U-Bahn im Tunnel stehen bleibt und er dort stundenlang gefangen ist oder dass ein Feuer ausbricht und er es nicht schafft, durch den Tunnel zu fliehen.

Im Lauf der Therapie gelingt es ihm, seine Gedanken zu ändern: „Die U-Bahn kann schon mal im Tunnel stehenbleiben. Dies bedeutet aber sehr wahrscheinlich noch keine Gefahr. Meist fährt sie nach ein paar Minuten wieder weiter. Ein Feuer oder ein Anschlag ist bisher noch nie vorgekommen, obwohl ich schon seit meiner Kindheit mit der U-Bahn fahre.“

Kognitive Verhaltenstherapie

Die kognitive Verhaltenstherapie hat sich bei den meisten Angststörungen als besonders wirksam erwiesen und sollten den Patienten vorrangig angeboten werden.
Bei dieser Therapieform wird davon ausgegangen, dass Gedanken (Fachbegriff: Kognitionen) und Bewertungen, aber auch das Verhalten die Gefühle eines Menschen beeinflussen. Hält jemand eine Situation für gefährlich, ist es naheliegend, dass er oder sie ein Gefühl der Angst entwickelt.

Weiterhin wird angenommen, dass belastende Lebensereignisse oder negative Erfahrungen im Leben zu negativen, unrealistischen Überzeugungen führen können. So denkt jemand, dem mehrmals etwas zugestoßen ist, zum Beispiel „Die Welt ist gefährlich und es kann leicht etwas Schlimmes passieren.“ In der Therapie überprüfen Therapeut*in und Klient*in gemeinsam, welche negativen Überzeugungen die Angst aufrechterhalten. Unrealistische Gedanken und Befürchtungen werden bewusstgemacht und kritisch hinterfragt.

Anschließend wird daran gearbeitet, die negativen, unrealistischen Gedanken durch realistischere Gedanken und Bewertungen zu ersetzen. Dadurch geht oft auch die Angst deutlich zurück.

Eine weitere Annahme der kognitiven Verhaltenstherapie ist, dass jemand durch anderes Verhalten als bisher neue Erfahrungen machen kann. Auch dadurch können falsche Überzeugungen verändert werden. Ein wichtiger Aspekt der Therapie ist daher, neue Verhaltensweisen auszuprobieren. Dabei sollen sich die Klient*innen bewusst den gefürchteten Situationen und Reizen stellen und diese aushalten und bewältigen. Man spricht hier auch von einer Konfrontations- oder Expositionsbehandlung.

Dies kostet Menschen mit starken Ängsten am Anfang meist große Überwindung. Doch auf diese Weise können sie die Erfahrung machen, dass die befürchteten negativen Ereignisse gar nicht eintreten und dass die Angst nach einiger Zeit abklingt. Das kann sehr motivierend sein, um sich nach und nach immer mehr angstbesetzten Situationen zu stellen. Mit der Zeit können so die übertriebenen Befürchtungen verändert werden. Und auch die Angst geht immer mehr zurückgeht oder verschwindet ganz.

Konfrontationstherapie: Sich der Angst stellen

Bei der Konfrontation in vivo muss sich er sich dagegen den angstbesetzten Situationen in der Realität stellen und dabei ebenfalls in jeder Situation so lange verbleiben, bis die Angst ganz oder weitgehend zurückgegangen ist. Die ersten Situationen werden dabei meist gemeinsam mit dem Therapeuten aufgesucht, danach übt der Patient alleine weiter.

Für viele Patienten ist es zunächst eine Überwindung, sich genau den Situationen zu stellen, vor denen sie am meisten Angst haben. Ist dies aber ein paar Mal gelungen, sind viele motiviert, weiter zu üben.

Wichtig bei der Konfrontation mit den Angstreizen ist, dass keine Beruhigungsmittel eingenommen werden. Auch auf ein so genanntes Sicherheitsverhalten, zum Beispiel das Mitnehmen eines „Notfallmedikaments“ oder eines Handys, um im „Notfall“ Hilfe rufen zu können, sollen die Patienten verzichten. Der Grund dafür ist, dass sie während der Übungen die Erfahrung machen sollen, die Angst aus eigener Kraft aushalten und bewältigen zu können.

Neben diesen stufenweisen Formen der Konfrontation gibt es auch noch die Methode der Reizüberflutung („Flooding“). Dabei wird der Patient unmittelbar mit der am meisten angstauslösenden Situation konfrontiert und muss diese so lange aushalten, bis die Angst deutlich nachgelassen hat. Diese Methode wird wegen ethischer Bedenken heute aber nur noch relativ selten durchgeführt.

Ergänzt wird die Konfrontationsbehandlung meist durch Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie. Dabei lernt der Patient zu erkennen, welche Fehler er bei der Einschätzung einer angstauslösenden Situation macht. Zum Beispiel überschätzt er die Wahrscheinlichkeit, dass etwas Schlimmes passieren wird oder er hat übertriebene Katastrophenfantasien. Im Lauf der Therapie sollen die fehlerhaften Bewertungen durch eine realistischere Sicht der Dinge ersetzt werden.

Exposition in virtueller Realität

Bei Patient:innen mit einer spezifischen Phobie, etwa einer Spinnen-, Höhen- oder Flugphobie sollte im Rahmen einer Psychotherapie eine Expositionsbehandlung durchgeführt werden. Wenn diese in der Realität nicht möglich ist, sollte laut der „Leitlinie Behandlung von Angststörungen“ eine Exposition in virtueller Realität (VR-Exposition) angeboten werden. Dabei werden die Klient:innen über eine Virtual-Reality-Brille mit den angstbesetzen Reizen konfrontiert.
Bei einer sozialen Phobie kann laut Leitlinie eine Exposition in virtueller Realität begleitend zu einer Psychotherapie angeboten werden. Bei einer Panikstörung oder Agoraphobie sollte dagegen keine Exposition in virtueller Realität durchgeführt werden, weil ihre Wirkung hier nicht ausreichend belegt ist.

Psychoanalyse und tiefenpsycholo­gisch fundierte Verfahren

Diese Therapieansätze gehen davon aus, dass Denken, Gefühle und Handeln auch von unbewussten psychischen Faktoren beeinflusst werden. Es wird angenommen, dass innere Konflikte oder Belastungen in den ersten Lebensjahren das spätere Leben stark beeinflussen können. Das können zum Beispiel körperliche Gewalt oder liebloses Verhalten der Eltern sein. Solche negativen Einflüsse können verhindern, dass jemand ausreichend Selbstvertrauen entwickelt und sich in engen Beziehungen vertraut und sicher fühlt. Angstsymptome werden demnach oft von tieferen, unbewussten Ängsten mitverursacht, etwa der Angst vor Trennung.
In der Therapie werden typische Angstsituationen sorgfältig aufgearbeitet. Dabei unterstützt die Therapeutin oder der Therapeut die Klientin oder den Klienten dabei, die unbewusste Bedeutung der Angstsymptome zu erkennen. So lernen die Betroffenen mit der Zeit, dass ihre Angst einen unbewussten inneren Konflikt widerspiegelt, der aus früheren Beziehungserfahrungen stammt. Wichtig ist dabei, dass sie bereit sein müssen, sehr offen über sich, ihre Erfahrungen im Leben und ihre Gefühle zu sprechen. Die Therapeutin oder der Therapeut unterstützt die Betroffenen gleichzeitig dabei, ihre Konflikte im Leben besser zu lösen und so Belastungen zu verringern.

Weiterhin kann die vertrauensvolle therapeutische Beziehung die Klientin oder den Klienten dazu ermutigen, sich angstbesetzten Situationen zu stellen und mehr Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen. Durch die wertschätzende, akzeptierende Haltung der Therapeutin oder des Therapeuten können negative Erfahrungen in Beziehungen, die zu einem geringen Selbstwertgefühl geführt haben, nach und nach zum Positiven verändert werden.

Systemische Therapie

Die Systemische Therapie wird vor allem bei der Behandlung der sozialen Phobie empfohlen. Bei dieser Therapieform liegt der Schwerpunkt auf den zwischenmenschlichen Beziehungen. Es wird davon ausgegangen, dass psychische Probleme und Erkrankungen eine Folge von zwischenmenschlichen Problemen und Konflikten sind – insbesondere in der Familie, aber auch mit anderen Bezugspersonen. In der Therapie werden solche zwischenmenschlichen Probleme und Konflikte mithilfe bestimmter Techniken bewusstgemacht und verändert. Dabei können wichtige Bezugspersonen in die Therapie einbezogen werden – diese müssen aber auch nicht unbedingt anwesend sein.

Internetbasierte Therapie

Inzwischen gibt es immer mehr Psychotherapie-Angebote per Internet. Dabei können einzelne Elemente der Therapie über das Internet angeboten werden, zum Beispiel diagnostische Fragebögen und Tests, Gespräche per Video-Meeting oder Anleitungen zu Übungen. Laut der „Leitlinie Behandlung von Angststörungen“ sollte internetbasierte Psychotherapie bei Angststörungen nicht als alleinige Therapiemaßnahme angeboten werden. Stattdessen sollte sie entweder überbrückend bis zum Beginn einer Therapie eingesetzt werden, oder als therapiebegleitende Maßnahme im Sinne einer Anleitung zur Selbsthilfe.

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