Wenn Angst das Leben bestimmt (Seite 7/12)

Spezifische Phobie

Herzklopfen wegen Flugzeug, Spinnen oder Höhen

Ängste vor bestimmten Dingen oder Situationen kommen bei vielen Menschen vor. Von einer spezifischen Phobie spricht man nur dann, wenn die Angst sehr ausgeprägt ist und die beruflichen und sozialen Aktivitäten erheblich einschränkt.

Ruth H. arbeitet im mittleren Management eines großen Industriekonzerns und ist beruflich häufig unterwegs. Eigentlich hat sie das Unterwegssein immer genossen und die langen Flüge als willkommene Auszeit gesehen, um sich vom Stress in ihrem Job zu erholen.

Bei einem Flug über den Atlantik gerät das Flugzeug jedoch in heftige Turbulenzen. Der Captain versichert zwar, dass alles in Ordnung sei, dennoch denkt Ruth H.: „Ob wir hier je wieder heil herauskommen?“ Ihr Herz schlägt heftig und Schweißperlen treten ihr auf die Stirn.

Obwohl Ruth H. das nächste Mal nur von Frankfurt nach Hamburg fliegt, empfindet sie schon beim Check-In ein mulmiges Gefühl. Als sie in der Abflughalle sitzt, rast ihr Herz und sie denkt: „Ich werde es nie schaffen, in dieses Flugzeug einzusteigen.“ Den ganzen Flug über hat Ruth H. starke Angst, achtet auf jedes Geräusch und ist extrem angespannt.

Vor dem übernächsten Flug nimmt sie eine Tablette Tavor, ein Beruhigungsmittel, das eine Freundin ihr empfohlen hat. Von da an steht sie kürzere Flüge nur noch durch, wenn sie vorher Tavor genommen oder ein Glas Alkohol getrunken hat. Aus Angst vor längeren Flügen lässt sie sich in eine andere Abteilung versetzen, in der sie nur noch Aufträge innerhalb Deutschlands erfüllen muss.

Merkmale

Bei einer spezifischen Phobie steht die Angst vor konkreten Objekten oder Situationen im Vordergrund. Häufig treten Ängste vor Tieren (z. B. Spinnen, Hunden, Mäusen), Naturgewalten (z. B. Gewitter, Wasser) oder Situationen, die gefährlich scheinen (z. B. vor Höhe, U-Bahnen, Aufzügen, Tunneln oder Fliegen im Flugzeug) auf.

Ein weiteres Merkmal der spezifischen Phobie ist, dass die gefürchteten Situationen vermieden oder nur unter intensiver Angst ausgehalten werden. Gleichzeitig wissen die Betroffenen im Grunde, dass ihre Angst übertrieben ist und in Wirklichkeit keine oder keine große Gefahr besteht.

Therapie

Die kognitive Verhaltenstherapie hat sich als sehr wirkungsvoll bei der Behandlung von Ängsten gezeigt. Dieser Behandlungsansatz zielt darauf ab, sich nach und nach den Situationen und Reizen, die Angst auslösen, auszusetzen. Dadurch können Betroffene erfahren, dass Ängste mit der Zeit abnehmen und ihre Befürchtungen sich nicht bewahrheiten.

Zunächst werden in der Therapie gemeinsam mit dem Klienten die Gründe für die Entstehung und Aufrechterhaltung seiner Ängste erarbeitet sowie eine Aufstellung der verschiedenen angstauslösenden Situationen zusammengestellt.

Dann erfolgt die Konfrontation mit den Angstreizen, die in der Regel gesteigert wird und zunächst „in sensu“, also in Gedanken und dann „in vivo“, das bedeutet in echt, durchgeführt werden kann. Mittels häufig eingesetzter ergänzender kognitiver Therapiemethoden kann der Klient seine fehlerhaften Einschätzungen der angstauslösenden Situationen lernen.

Häufigkeit und Verlauf

Die Angaben zur Häufigkeit der spezifischen Phobien sind in verschiedenen Studien sehr unterschiedlich. Demnach sind zwischen sechs und 15 Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens von einer spezifischen Phobie betroffen.

Die Angst kann in jedem Lebensalter beginnen, tritt aber in den meisten Fällen in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter zum ersten Mal auf. Ohne Behandlung bleibt die Angst meist dauerhaft bestehen.

Sonderfall: Blut-, Spritzen- und Verletzungsphobie

Eine Blut-, Verletzungs- und Spritzenphobie (kurz: Blutphobie) ist eine Sonderform der spezifischen Phobie. Die Betroffenen haben Angst vor Situationen, die an sich nicht gefährlich sind, nämlich davor, Blut oder Spritzen zu sehen, sich zu verletzen oder Spritzen zu bekommen. Daher vermeiden sie solche Situationen oder ertragen sie nur mit großer Angst. Eine Besonderheit bei Blutphobikern ist jedoch, dass sie in den Angstsituationen dazu neigen, in Ohnmacht zu fallen:

Simon S. ist 28 Jahre alt, Sportlehrer, gesund und gut durchtrainiert. Doch seit seiner Jugend hat er ein Problem damit, zum Arzt zu gehen. Jedes Mal, wenn er geimpft oder ihm Blut abgenommen werden soll, wird ihm ganz schwindelig, und er „kippt um“.

Auch zu Hause ist ihm das schon passiert, als er sich bei einer Handwerksarbeit leicht in den Finger geschnitten und geblutet hat. Schon beim Anblick von Spritzen oder beim Geruch von Desinfektionsmitteln bekommt Simon S. Herzrasen und fühlt sich schwindelig und benommen.

Arztbesuche schiebt er immer so lange wie möglich vor sich her. Sogar als seine Oma vor kurzem im Krankenhaus lag, gelang es ihm nicht, sie zu besuchen.

Symptome der Blutphobie

Dazu kommt es, weil die Betroffenen beim Kontakt mit den angstauslösenden Reizen eine spezifische, so genannte biphasische Reaktion zeigen. Herzschlag und Blutdruck steigen durch die Angst zunächst an und fallen anschließend abrupt ab. Gleichzeitig kommt es auch zu einer Erweiterung der Blutgefäße. Das Blut „sackt“ im Körper nach unten „ab“, und dem Gehirn steht kurzzeitig zu wenig Blut zur Verfügung.

Die Neigung zur Ohnmacht scheint vor allem bei Menschen vorzukommen, bei denen eine Fehlregulation des autonomen Nervensystems, das die Funktion der inneren Organe reguliert, vorliegt. Diese ist vermutlich zum Teil genetisch bedingt.

Häufigkeit

Etwa drei bis vier Prozent der Bevölkerung sind im Laufe ihres Lebens von einer Blut-, Verletzungs- und Spritzenphobie betroffen.

Besonderheiten bei der Therapie der Blutphobie

Eine Blut- oder Spritzenphobie wird im Prinzip ähnlich wie andere Angststörungen behandelt: Die Betroffenen werden unter Anleitung zunächst mit den weniger beängstigenden und nach und nach mit immer stärker angstauslösenden Reizen konfrontiert – jeweils so lange, bis die Angst deutlich zurückgeht.

Um gleichzeitig zu verhindern, dass eine Ohnmacht auftritt, erlernen die Patienten vor der Konfrontation die Methode der „Applied Tension“, der angewandten Anspannung. Zunächst üben sie, die Oberschenkelmuskeln etwa 15 bis 20 Sekunden lang fest anzuspannen, was dem „Absacken“ des Blutes im Körper entgegenwirkt. Anschließend werden die Patienten Schritt für Schritt mit den Angstreizen konfrontiert und sollen dabei jedes Mal die Oberschenkelmuskeln anspannen, wenn sie erste Anzeichen einer Ohnmacht (z. B. Schweiß auf der Stirn, Ohrensausen) bemerken. Die Muskelspannung sollen sie so lange beibehalten, bis die Anzeichen der Ohnmacht wieder verschwunden sind.

Auf diese Weise lernen die Betroffenen schnell, dass der Kontakt mit Spritzen oder Blut nicht zwangsläufig zu einer Ohnmacht führt. Daher lässt sich die Blutphobie mit dieser Methode häufig in relativ kurzer Zeit erfolgreich behandeln.

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