Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit (Seite 7/8)

Rückfall bahnt sich an

Mehrere Anläufe für dauerhafte Veränderungen

Hubert E. (56 Jahre) kommt bereits zum dritten Mal zum Entzug in die Suchtstation einer Psychiatrischen Klinik. Er berichtet, dass er es ein dreiviertel Jahr lang geschafft habe, abstinent zu bleiben. Weil er sich einsam gefühlt habe, fing er an, ab und zu abends „ein Gläschen“ zu trinken. Dies sei einige Monate lang gut gegangen, ohne dass es zu einem Rückfall mit unkontrolliertem Trinken gekommen sei.

Als sein Vermieter ihm jedoch mit Kündigung drohte, weil er die letzten zwei Monatsmieten nicht bezahlt hätte, habe Hubert E. sich dabei „erwischt“, dass er eine Flasche Whiskey gekauft und sie allein zuhause getrunken habe. Von diesem Zeitpunkt an sei sein Trinkverhalten zunehmend außer Kontrolle geraten.

Aus der Vorgeschichte des Patienten geht hervor, dass er über Jahre die Gewohnheit hatte, abends „zum Entspannen“ ein bis zwei Bier zu trinken. Im Alter von 47 Jahren wurde der Handwerksmeister überraschend in eine Position versetzt, in der er sich unterfordert und herabgesetzt fühlte.

Damals habe aus seiner Sicht das Alkoholproblem begonnen: Er habe abends und an den Wochenenden immer mehr getrunken und schließlich auch während der Arbeit immer wieder heimlich zum Bier gegriffen. Seine Ehe habe darunter stark gelitten. Seine Frau sei aber auch immer wieder für ihn eingesprungen, habe ihn zum Beispiel spät in der Nacht abgeholt, wenn er betrunken gewesen sei, oder ihn beim Arbeitgeber entschuldigt.

Schließlich sei der heimliche Alkoholkonsum auch seinen Kollegen und seinem Chef aufgefallen. Nach einem Gespräch beim Betriebspsychologen habe er eingesehen, dass es so nicht weitergehen könne. So sei es zu seiner ersten stationären Entzugsbehandlung gekommen.

Hubert E. berichtet, dass er sehr motiviert gewesen sei, von nun an abstinent zu leben. Auslöser für Rückfälle seien aber immer Probleme gewesen, bei denen Herr E. sich „klein“ gefühlt habe und keine Lösung gesehen habe.

Irgendwann habe es seiner Frau gereicht und sie sei aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Seitdem sei alles bergab gegangen: Er habe immer exzessiver getrunken, sein Arbeitgeber habe ihm nach mehreren Abmahnungen schließlich gekündigt. Nun habe ihn sein Hausarzt überzeugt, es mit einem erneuten stationären Entzug zu versuchen.

Dauert der problematische Alkoholkonsum über längere Zeit an, wird das Leben des Betroffenen zusehends vom Alkohol beherrscht, während andere Aktivitäten wie Aufgaben im Beruf und in der Familie oder Hobbys mehr und mehr vernachlässigt werden.

Entzugserscheinungen und die Toleranzentwicklung, das heißt, dass immer mehr Alkohol benötigt wird, um die gleiche Wirkung zu erleben, tragen ebenfalls dazu bei, dass Alkohol schließlich zum Mittelpunkt des eigenen Lebens wird. Dabei ist eine Verschlechterung des Alkoholproblems wahrscheinlicher, wenn jemand schon vor Beginn der Störung schwerwiegende Probleme hatte oder über nur wenige psychische Fähigkeiten verfügt, sein Leben in guter Weise zu gestalten.

Bereitschaft zur Therapie

Selbst wenn jemand bereits gesundheitsschädigend mit Alkohol umgeht oder abhängig ist, stehen für ihn meist trotzdem noch eine lange Zeit die positiven Wirkungen des Alkohols im Vordergrund.

Negative Auswirkungen wie Probleme im Beruf und in sozialen Beziehungen oder körperliche Erkrankungen werden dagegen lange Zeit ignoriert und oft erst wahrgenommen, wenn sie schon starke Auswirkungen haben.

Der häufigste Auslöser dafür, dass jemand seine Situation verändern möchte und bereit ist, eine Therapie zu beginnen, sind ausgeprägte negative Folgen des Alkoholkonsums wie die Trennung des Ehepartners, eine Kündigung oder starke gesundheitliche Probleme. Dabei fällt auf, dass die Betroffenen immer wieder zwischen dem Wunsch, vom Alkohol loszukommen und dem Wunsch, wieder Alkohol zu trinken, hin- und herschwanken.

Exkurs: Theoretisches Modell zur Veränderungsbereitschaft

Das „transtheoretische Modell“ von Prochaska und DiClemente (1983) geht davon aus, dass die Bereitschaft zu einer dauerhaften Veränderung des Trinkverhaltens verschiedene Stadien durchläuft. Es bildet eine wichtige Grundlage für das Vorgehen in der Therapie.

  • Stadium der Absichtslosigkeit: Der Betroffene sieht in seinem Alkoholkonsum noch kein Problem. Er hat deshalb auch nicht die Absicht, etwas zu verändern.
  • Stadium der Absichtsbildung: Der Betroffene ist sich bewusst, dass sein Trinkverhalten problematisch ist. Er macht sich erste Gedanken über eine Veränderung.
  • Stadium der Vorbereitung: In diesem Stadium besteht ein deutlicher Wunsch nach Veränderung.
  • Stadium der Handlung: Die Betroffenen haben ihr Trinkverhalten bereits verändert und für einen gewissen Zeitraum (bis zu sechs Monaten) Abstinenz erreicht.
  • Stadium der Aufrechterhaltung: Die Betroffenen leben bereits länger als sechs Monate abstinent.

Außerdem beziehen Prochaska und DiClemente das Stadium des Rückfalls in ihr Modell mit ein. Sie gehen davon aus, dass die meisten Betroffenen dieses Stadium einmal oder sogar mehrmals durchlaufen müssen, bevor sie langfristig abstinent leben können.

Gründe für Rückfälle

Ein Rückfall in die alten Trinkgewohnheiten kommt häufig vor, selbst bei Patienten, die erfolgreich an einer Therapie teilgenommen haben.

Dabei zeigen Untersuchungen mit Alkoholabhängigen jedoch auch, dass nicht jeder einmalige oder relativ geringe Alkoholkonsum (ein so genannter „Ausrutscher“, englisch lapse) automatisch zu einem Rückfall in die alten Verhaltensmuster (englisch relapse) führt. So erleben manche „trockenen“ Alkoholiker von Zeit zu Zeit kleinere Rückfälle, aus denen sie aber selbst oder mit therapeutischer Begleitung wieder zur Abstinenz zurückkehren.

Exkurs: Theoretische Konzepte zum Rückfall

Nach dem Modell der klassischen Konditionierung wird ein Rückfall durch konditionierte Reize ausgelöst, die der Betroffene mit dem Genuss von Alkohol verbindet. So wird das unwiderstehliche Verlangen nach Alkohol zum Beispiel durch bestimmte Stimmungen, Personen oder Orte ausgelöst, die der Betroffene in seinem früheren Trinkerleben mit Alkohol assoziiert hat.

Kognitive Modelle gehen davon aus, dass ein Rückfall nicht plötzlich zustande kommt, sondern sich allmählich anbahnt. Dabei spielen eine Reihe von Faktoren – äußere Umstände, Gedanken und Verhaltensweisen – eine Rolle. So beeinflussen nach dem Modell von Marlatt und Gordon (1985) folgende Faktoren, ob es zu einem Rückfall kommt oder nicht:

  • allgemein kritische Lebenssituationen
  • Konfrontation mit Risikosituationen, zum Beispiel negative Gefühle, soziale Konflikte, Verführung zum Trinken
  • Erwartung des Betroffenen, dass der Alkoholkonsum positive Auswirkungen hat
  • Strategien zur Bewältigung der Risikosituation, zum Beispiel „Nein-Sagen“ zu Alkohol
  • Stärke der Selbstwirksamkeitserwartung, das heißt wie stark jemand davon überzeugt ist, Fähigkeiten zu besitzen, um mit Risikosituationen umgehen zu können

Außerdem beeinflusst nach Marlatt und Gordon auch der Abstinenz-Verletzungs-Effekt, wie jemand nach einem erneuten Alkoholkonsum („Ausrutscher“) reagiert. So kann der Ausrutscher zu Schuld- und Schamgefühlen und einem geringen Selbstwertgefühl führen. Der Betroffene denkt dann zum Beispiel: „Ich will ja wirklich mit dem Trinken aufhören, aber ich habe es nicht geschafft. Ich bin ein Versager und werde es nie schaffen, auf Alkohol zu verzichten.“ Diese negative Verarbeitung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem vollständigen Rückfall (relapse) kommt. Der Patient trinkt dann quasi aus Frust und Verzweiflung weiter.

Umgekehrt kann jemand aber auch lernen, einen Fehltritt konstruktiv zu verarbeiten. So könnte er sich sagen: „Das war jetzt nur ein einmaliger Vorfall, es wird in Zukunft nicht mehr vorkommen. Ich kann daraus etwas lernen und es in Zukunft besser machen.“ Bei dieser Reaktion ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass es zu einem vollständigen Rückfall kommt.

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