Gemeinsam mit drei Kolleg:innen möchte Niklas Lottes diesen Zustand ändern und eine Petition beim Deutschen Bundestag einreichen. Dafür sammeln sie auf change.org unter dem Titel „Chancengleichheit für junge Psychotherapeut*innen! Für eine fairere Kassensitzvergabe“ Stimmen.
Sie fordern, dass die Kassensitze für Psychotherapeut:innen gerechter vergeben werden sollten. „Viel zu häufig bekommen junge Psychotherapeuten einen Kassensitz nur, wenn sie den Vorgänger entsprechend hoch ausbezahlen“, sagt Lottes.
Um eine psychotherapeutische Behandlung von gesetzlich versicherten Patient:innen mit der Kasse abrechnen zu können, benötigt man neben einer Approbation als Psychotherapeut:in die Genehmigung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) in Form eines Vertragstherapeutensitzes, also eines Kassensitzes.
Sind Preise für einen Kassensitz von bis zu 100.000 Euro gerechtfertigt?
Die Preise für einen Kassensitz belaufen sich nicht selten auf 100.000 Euro oder sogar mehr. „Solch eine Summe ist für viele junge Psychotherapeut:innen einfach nicht bezahlbar und im Grunde auch nicht zu rechtfertigen“, sagt der gebürtige Kasseler, der Psychologie in den niederländischen Städten Groningen und Leiden studiert hat. Gibt beispielsweise ein Zahnarzt seine Praxis auf, dann erscheint es sehr viel verständlicher, dass er eine Art Ablösegebühr verlangt. Immerhin erhält der Nachfolger Räume, Instrumente, Behandlungsstühle und nicht zuletzt einen Stamm an möglichen Patient:innen.
Übernimmt jedoch ein Psychotherapeut einen Kassensitz, bekommt er meist weder Räume, noch Ausstattung, geschweige denn Patient:innen. Denn eine Psychotherapie bedarf üblicherweise eines großen Vertrauens und einer Beziehung, die zunächst von beiden Seiten geprüft wird, bevor tatsächlich therapeutisch gearbeitet werden kann. Nach Beendigung einer Therapie gibt es keinen regelmäßigen Check-up wie etwa beim Allgemeinarzt oder Zahnarzt. Im Gegenteil, nachdem eine von der gesetzlichen Krankenkasse finanzierte Psychotherapie beendet wurde, müssen Betroffene in der Regel zwei Jahre warten, bis sie wieder behandelt werden könnten. Selbst wenn Klient:innen das wollten, können sie also nicht immer wieder in Behandlung kommen, wie dies bei Patient:innen der Fall ist, die beispielsweise einmal im Jahr zu einer Vorsorgeuntersuchung zu einem Arzt gehen. Es ist also kein Patientenstamm vorhanden, der weitergegeben werden könnte.
„Ein halber Kassensitz zu einem Preis von 85.000 Euro gilt beispielsweise in Köln als ein gutes Angebot. Selbst 30 Minuten außerhalb von Köln muss man für einen halben Kassensitz mehr als 70.000 Euro bezahlen“, berichtet Niklas Lottes von den Erfahrungen, die er während seiner Suche nach einem Kassensitz gemacht hat.
Therapeutische Ausbildung kostet bis zu 70.000 Euro
Die Ausbildung zum Psychotherapeuten ist aufwändig. Die meisten, die jetzt auf der Suche nach einem Kassensitz sind, haben nicht weniger als zehn Semester Psychologie an einer Universität studiert und anschließend eine mindestens dreijährige psychotherapeutische Ausbildung absolviert.
Davon abgesehen, dass die Kosten dafür zwischen 20.000 und 70.000 Euro betragen, verdienten sie während der therapeutischen Ausbildung kaum Geld.
Die Voraussetzungen, Psychotherapeutin oder Psychotherapeut zu werden, haben sich 2020 mit der Reform der Psychotherapeutenausbildung zumindest für künftige Absolventen verbessert, weil sie bereits nach dem Studium eine Approbation erhalten werden. Außerdem werden sie während der Fachausbildung therapeutisch arbeiten können, wofür sie anders als ihre Vorgänger auch eine Bezahlung erhalten werden.
Warum können Psychotherapeut:innen ihren Kassensitz verkaufen?
An der Art der Vergabe der Kassensitze hat sich seit 1999 nichts geändert. Wie viele Psychotherapeut:innen welche Region braucht, das wurde damals von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in der Bedarfsplanung für ganz Deutschland festgelegt und die Anzahl der Sitze auf die Anzahl der damals existierenden Psychotherapeut:innen begrenzt. Jeder Psychotherapeut erhielt kostenfrei einen Kassensitz.
Vollversorgt, überversorgt, unterversorgt - Kassensitze oft ein knappes Gut
Seitdem wird von Vollversorgung gesprochen, wenn alle Sitze in einem Gebiet vergeben sind. Der Begriff Versorgung beschreibt aber nicht, wie viele Patient:innen in einem bestimmten Gebiet tatsächlich einen Psychotherapieplatz benötigen, sondern wie viele Therapeut:innen in diesem Gebiet 1999 niedergelassen waren.
Nahezu alle Gebiete Deutschlands werden als überversorgt eingestuft, weshalb dort keine weiteren Neuniederlassungen mehr möglich sind. Ist die Vollversorgung erreicht, können Kassensitze nur dann übernommen werden, wenn es Psychotherapeut:innen gibt, die ihren Sitz abgeben. In Form der Ländervertretungen steckt die Kassenärztliche Bundesvereinigung den Rahmen ab, ermittelt eine Liste mit geeigneten Bewerbern und der sogenannte Zulassungsausschuss trifft die endgültige Entscheidung. Therapeut:innen, die ihren Sitz abgeben, können jedoch einen Favoriten vorschlagen und dieser Vorschlag wird meistens angenommen.
Gutachten des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) legt Unterversorgung nahe
Laut eines Gutachtens des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) hingegen sind mindestens 1.600 zusätzliche psychotherapeutische Kassensitze nötig, um den tatsächlichen Bedarf zumindest annähernd zu decken.
Es ist aber die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die darüber entscheidet, ob und wie viele neue Kassensitze geschaffen werden und deren Vertretungen in den Bundesländern sind dafür verantwortlich, für gesetzlich Versicherte einen gleichmäßigen und bedarfsgerechten Zugang zur vertragsärztlichen und vertragspsychotherapeutischen Versorgung sicherzustellen, das ist der sogenannte Sicherstellungsauftrag.
Die Aufgabe des G-BA liegt vor allem darin, innerhalb des vom Gesetzgeber bereits vorgegebenen Rahmens festzulegen, welche Leistungen der medizinischen Versorgung von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen werden können.
Junge Psychotherapeut:innen könnten sofort zusätzliche Therapieplätze für Kassenpatient:innen anbieten
Die Initiatoren dieser Petition bemängeln auch, dass viele Patient:innen viel schneller psychotherapeutisch behandelt werden könnten. Denn in Deutschland warten Kassenpatienten durchschnittlich ein halbes Jahr auf einen ambulanten Platz bei einem Psychotherapeuten.
Gleichzeitig gibt es viele junge qualifizierte Psychotherapeut:innen, die sofort zusätzliche Therapieplätze für Kassenpatient:innen anbieten könnten. Dafür müsste die Zahl der Kassensitze angehoben werden. Denn ohne Kassensitz können sie nur Patient:innen behandeln, die privat versichert oder bereit und vor allem finanziell dazu in der Lage sind, ihre Behandlung selbst zu bezahlen.
„Schließlich stehen ausreichend ausgebildete Psychotherapeut:innen bereit“, sagt der 30-Jährige, der nach seiner Ausbildung als Verhaltenstherapeut im Vergleich zu anderen glücklicherweise nur 13 Monate auf einen Kassensitz warten musste, bis er schließlich einen in Köln zu einem fairen Preis angeboten bekam.
Manche Psychotherapeut:innen haben sich mehrere Kassensitze gesichert
Ein Psychotherapeut kann eigentlich nur einen einzigen Kassensitz erwerben. Doch er hat die Möglichkeit, bis zu vier Sitze zu kaufen, wenn er auf den übrigen Sitzen approbierte Psychotherapeut:innen anstellt. Außerdem darf er mehrere Sitze gleichzeitig erwerben, wenn er ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZs) gründet. Auch diese Praxis treibt die Höhe der einzelnen Kassensitze immer weiter in die Höhe.
Verkauf einer Praxis laut KBV rechtlich zulässig und wesentlicher Teil der Altersabsicherung
„Grundsätzlich ist der entgeltliche Erwerb einer Praxis zulässig. Er verstößt weder gegen die guten Sitten noch gegen das Berufsrecht“, beantwortet Roland Stahl, Pressesprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), diese Frage von therapie.de. „Für viele Psychotherapeut:innen ist der Verkauf der Praxis ein wichtiger Bestandteil ihrer Altersvorsorge, sie sind also finanziell davon abhängig. Der Verkaufspreis bildet sich aus dem Substanzwert und dem ideellen Wert einer Praxis.“
Das bedeutet, dass ein Vorgänger viel Geld von einem jungen Psychotherapeuten verlangen kann, obwohl er damals für seinen eigenen Kassensitz keinen Cent bezahlen musste.
Laut Sozialgesetzbuch darf der Kassensitz selbst nicht verkauft werden
Der Gesetzgeber hat es im Sozialgesetzbuch recht eindeutig festgelegt, dass ein Kassensitz selbst nicht verkäuflich ist. Denn die Kassensitz-Zulassung ist ein öffentlich-rechtlicher Akt. Psychotherapeut:innen dürfen also nur ihre Praxis, aber im Grunde nicht den Kassensitz verkaufen.
Im Nachbesetzungsverfahren sollen die wirtschaftlichen Interessen dessen, der seinen Kassensitz abgibt, nur maximal in Höhe des Verkehrswertes der Praxis berücksichtigt werden. Tatsächlich wird das aber meist anders gehandhabt. Ein Verkauf eines Kassensitzes funktioniert vor allem in zulassungsbeschränkten Gebieten. Insbesondere dort würden sich Käufer finden lassen, die bereit wären, für den ideellen Wert einer Praxis zu bezahlen.
De jure, das heißt von Rechts wegen darf eine Kassenzulassung überhaupt nicht verkauft werden, de facto, also nach Lage der Dinge geschieht vor allem das: Die Käufer bezahlen einen hohen Preis, um mit den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen zu können. In den seltensten Fällen geht es um Räume oder Patientenstamm.
Für die Zukunft ist keine schnelle Besserung in Sicht
Die KBV wird die Kassensitze nicht erhöhen. „Die Gruppe der psychologischen Psychotherapeuten ist die Gruppe in der vertragsärztlichen und –psychotherapeutischen Versorgung, die am stärksten wächst. Seit 2012 sind rund 2.200 zusätzliche Zulassungsmöglichkeiten für Psychotherapeut:innen hinzugekommen, davon rund 800 bei der jüngsten Bedarfsplanungsreform 2019“, argumentiert Stahl. Diese neuen Sitze kämen nun erst in der Versorgung an, so dass abzuwarten bleibe, wie sich das Versorgungsgeschehen dadurch verändere. Zusätzlich würde das Leistungsangebot durch Sitzteilungen gesteigert.
Anders als Lottes und seine Mitstreiter:innen scheint für die Verantwortlichen in der KBV die ambulante psychotherapeutische Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland gut aufgestellt zu sein. „Kein anderes Land setzt bei der Behandlung psychischer Erkrankungen so sehr auf Psychotherapie wie Deutschland. Es findet sich auch kein Land, das eine so hohe Dichte an ambulanten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten aufweist und das einen so niedrigschwelligen, flächendeckenden Zugang zur Versorgung bietet, wie Deutschland“, sagt Roland Stahl.
Die Forderungen von Niklas Lottes und seinen Kolleg:innen lauten deshalb:
- Jede Psychotherapeutin, jeder Psychotherapeut soll maximal einen einzigen Kassensitz bekommen.
- Die Preise für einen Kassensitz müssen endlich gedeckelt werden.
- Zusätzlich zu den bestehenden sollen neue Kassensitze geschaffen werden, um Patient:innen sehr viel schneller eine Behandlung zu ermöglichen.
Abgebende Psychotherapeut:innen halten sich mit Äußerungen stark zurück
therapie.de hat bei vielen Psychotherapeut:innen, die ihren Kassensitz verkaufen möchten, nachgefragt, wie sie zur Vergabepraxis stehen.
Der Psychotherapeut Andreas Noelle war der einzige, der auf die Anfrage antwortete. Er gibt seinen Kassensitz nach 15 Jahren aus Altersgründen ab. „Ich halte das Verfahren der KV BAWÜ für fair und objektiv“, beantwortet Noelle die Frage, ob künftig festgelegte oder gar keine Preise festgeschrieben werden sollten. Der Wert seiner Praxis sei von der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg nach einem wissenschaftlich fundierten Verfahren und zwar auf Basis eines Gutachtens der Universität Hohenheim berechnet worden. Er selbst habe seinen Kassensitz damals auch bezahlen müssen.
Genau wie Lottes würde es Noelle begrüßen, wenn die KBV mehr Kassensitze für Psychotherapeut:innen einrichten würde.
Petition "Chancengleichheit für junge Psychotherapeut:innen! Für eine faire Kassensitzvergabe"
Niklas Lottes und seine Kollegen haben bald die nötige Anzahl an Stimmen, um die Petition beim Deutschen Bundestag einzureichen. Sie sind bereits mit Politikern im Gespräch. „Wenn das Projekt als Petition eingereicht werden kann, ist das für uns schon ein großer Zwischenschritt. Denn wir möchten vor allem dafür sorgen, dass dieses Problem endlich die nötige Aufmerksamkeit bekommt. Für dessen Lösung sind jedoch die Politik und die Kassenärztliche Bundesvereinigung zuständig.“
Die Petition läuft auf change.org unter dem Titel „Chancengleichheit für junge Psychotherapeut*innen! Für eine fairere Kassensitzvergabe“.